Schuldbewusst senke ich den Blick.

Es ist so unfair! Was wäre es denn für ein Leben, wenn ich ständig wie ein in die Ecke gedrängtes Kaninchen lebe, immer mit der Gefahr, von einem hungrigen Wolf gefressen zu werden? Ich bin zwanzig. Ich muss nicht erwachsen sein und ich brauche auch keinen verdammten Beschützer, der mir alles hinterherräumt.

»Es tut mir leid, okay? Aber du verstehst es einfach nicht«, sage ich daher. Mit Mühen versuche ich, die Stimmung wieder ins Lot zu bringen. »Ich verstehe es tatsächlich nicht. Ich verstehe nicht, warum du so viel Aufmerksamkeit brauchst, warum dir das alles hier so verdammt viel bedeutet. Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach das machen kannst, was von dir verlangt wird.«

»Natürlich verstehst du es nicht, Braxton! Dabei ist es so offensichtlich, nur schaust du nicht richtig hin!«, rufe ich wütend. Er starrt mich nur ausdruckslos an.

»Nenn mich bitte Ethan, nicht das du dich noch verplapperst. Das ist wirklich wichtig«, sagt er nun sanfter. Er hat sie doch nicht mehr alle! »Okay, Braxton«

Er stöhnt genervt. Gut so.

»Was ist überhaupt mit deinem Kleid passiert?«, fragt er nun belustigt und deutet auf den Fleck. Er wechselt das Thema leichter als ich meine Unterwäsche. Aber alles ist besser als seine ätzenden Tiraden, weswegen ich auch beschließe, in seinen Smalltalk mit einzusteigen. »Ein kleiner Zusammenstoß.«

Braxton lacht leise, dann wirft er mir einen entschuldigenden Blick zu. »Ich wollte dich nicht so anschreien, das tut mir leid. Ich bin einfach so ... es wäre leichter, wenn du zur Abwechslung mal tun würdest, was man dir sagt.«

Ich zucke kokett mit den Achseln und lache. »Habe ich das jemals getan?« Lächelnd schüttelt er den Kopf. »Nein, Ra - ... Paige.«

»Ich gehe mal nach oben. Ich muss noch etwas vorbereiten«

»Um null Uhr? Wollen wir nicht lieber etwas zu essen bestellen? Ich bin am Verhungern!«

»Nein, du solltest jetzt schlafen. Du hast morgen immerhin wieder Kurse«, Braxtons Ton ist unnachgiebig. Distanziert. Mit seinen Worten spaltet er den klaffenden Riss, der sich schon damals in Madrid auftat, nur noch weiter.

»Du doch auch«, ich verschränke die Arme vor der Brust und ziehe eine Augenbraue hoch.

»Ich bin auch erwachsen.«

»Ich auch!«

»Warum kannst du dich nicht so benehmen?«

Mit den Worten wirbelt er herum und marschiert die Treppe hoch. Am liebsten würde ich ihm den Kopf abreißen. Dafür, dass er in mir immer nur ein kleines Kind sieht. Sicher, als wir uns kennengelernt haben, war ich das auch. Und ja, irgendwie war er schon immer ein Beschützer für mich, nicht nur auf seine rein berufliche Art.

Dennoch. Er verkennt einfach, dass auch ich mich entwickelt habe. Dass die Zeiten mich zu einer anderen Person gemacht haben.

Da die komplette obere Etage ihm gehört, bin ich selten dort. Er hat ein Recht auf Privatsphäre, wie ich finde, und außerdem befindet sich dort oben nur noch sein Trainingsraum plus einen weiteren Raum für Ausrüstungen. Nicht wirklich etwas Interessantes. Zumindest meinte er immer, dass da Ausrüstungen drin sind.

Vielleicht hat er da auch eine Kammer der Qualen, wo er Leute foltert oder so, dass jedenfalls ist meine Vermutung.

Die ist nämlich wesentlich amüsanter als irgendwelche langweiligen Schusswaffen oder unzählige Variationen von scharfen Messern.

Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, lasse sie achtlos im imposanten Flur liegen und tapse in mein Zimmer. Eine seltsame Angewohnheit von mir: ich lasse Dinge manchmal mitten im Raum stehen. So steht zum Beispiel mein Rucksack für die Uni mitten auf meinem flauschigen, cremefarbenen Teppich. Schnell ziehe ich mich um und wechsle mein immer noch leicht feuchtes Kleid gegen mein Nachthemd. Im Bad werfe ich es in den Wäschekorb und putze mir die Zähne.

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