12. Wache

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Die Zelte waren aufgeschlagen und es wurde langsam dunkler. Die Überreste des Feuers rauchten zwischen ihnen. Vor wenigen Minuten hatten sie es gelöscht und sich zum Schlafen niedergelegt. Sie konnten nicht riskieren, dass sie wilde Tiere durch das Licht auf sich aufmerksam machten. Die Mission war gerade mal gestartet und schon wurde die Gruppe von wilden Bestien überrumpelt? Das würde ein schlechtes Licht auf Liv als Anführerin werfen – ganz zu schweigen von ihren Gruppenmitgliedern, die dabei in Gefahr kämen. Besser, sie gingen kein Risiko ein.

Liv hatte sich dazu entschieden, die erste Wache zu übernehmen. Bei einer großen Gruppe wie sie es waren, konnten sie es sich leisten, mehrere Wachen abzustellen. Sie entschied, dass zwei Hunters gleichzeitig wach bleiben sollten. Vier Augen sahen mehr als zwei. Sie konnten mehrmals in der Nacht wechseln und niemand würde allzu wenig Schlaf bekommen.

Ein Mädchen namens Virvi hatte sich auf der anderen Seite des Lagers postiert und behielt die Region im Blick, die Liv von ihrer Position aus nicht erkennen konnte. Sie hatte sie noch nicht näher in Augenschein genommen, doch ihr erster Eindruck war recht positiv: Konzentriert und sorgefältig – wenn auch etwas verschlossen, wie die meisten Hunters. Sechs Zelte waren schwerer zu überschauen, als Liv zunächst gedacht hatte. Gut, dass sie sich die Arbeit mit jemandem teilen konnte.

Liv ließ sich auf einem umgekippten Baumstamm nieder und starrte in den lichten Wald. Sie waren noch nicht weit in ihn vorgedrungen. Die Bäume waren jung und wahrten größeren Abstand zu ihren Gefährten. Es war nicht ganz ungefährlich, hier zu rasten, doch das würde es nirgendwo wirklich sein.

Am Rande ihres Blickfeldes bemerkte sie eine Bewegung, dann ein leises Ritsch. Sie umfasste ihre Armbrust intuitiv ein wenig fester und fuhr herum. Als sie sah, was sie aufgeschreckt hatte, entspannte sie sich wieder. Einer der Novizen war aus seinem Zelt getreten und machte sich daran, den Reißverschluss so leise wie möglich zuzuziehen. Als er fertig war und sich zu ihr umwandte, erkannte sie ihn. Es war der Junge, der sie zu den Erlebnissen der gescheiterten Expeditionstruppe befragt hatte. Conec. Sie winkte ihn zu sich. Er näherte sich mit bedächtigen Schritten.

„Ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen.“, nahm er ihre Frage vorweg.

„Verstehe.“ Liv nickte. Gerne konnte er seine Luft schnappen und danach wieder ins Bett verschwinden.

Offenbar war der Junge aber anderer Meinung und blieb etwas unruhig auf der Stelle stehen. Er verdeckte einen Teil ihres Wachbereiches, deshalb forderte sie ihn auf, sich zu setzen. Stillschweigend nahm er neben ihr auf dem Stamm Platz.

„Es ist etwas seltsam…“, begann er nach einer kurzen Pause. „Vor einem Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich jetzt schon hier draußen sein würde. Damals waren die Voraussetzungen anders. Man musste mehrere Prüfungen bestehen und Erfahrungen sammeln… Manchmal habe ich das Gefühl, der Präsident ändert die Gesetze, wie es ihm gerade passt…“

Liv runzelte die Stirn. Viel konnte sie nicht dazu sagen – die Wahrheit war nicht für seine Ohren bestimmt. Tatsächlich hatte man früher eine Menge Ausbildungsphasen und Tests durchlaufen müssen, um einen Auftrag im Außendienst zu bekommen. Aufgrund der Hunter-Knappheit waren es im vergangenen Jahr jedoch deutlich weniger geworden. Nun durften sogar Novizen ohne einen erfahrenen Hunter auf Expedition gehen – wie man an ihrer jungen Gruppe sehr gut sehen konnte. Das Caraunt würde bald am Ende seiner Kräfte angelangt sein und den Tieren kaum noch etwas entgegen zu setzen haben. Das musste jedoch vor dem Volk geheim gehalten werden – Panik war das aller letzte, das sie gebrauchen konnten.

Conec versuchte anscheinend, mehr aus der Präsidententochter heraus zu bekommen, als für seine Ohren bestimmt war. Das war jedoch vergeblich. Zum einen kannte Liv die Gefahr, die mit einer Bekanntmachung dieser Tatsache einherging. Zum anderen wussten weder sie noch ihr Vater wirklich über die Situation Bescheid. Die genauen Zahlen lagen dem Verteidigungsminister vor, der auch die neuen Gesetze für die Rekrutierung der Novizen vorgeschlagen und durchgebracht hatte. Alles, was mit den Hunters in Verbindung stand, lag in seiner Hand. Livs Vater überließ diese Angelegenheiten zum größten Teil ihm und konnte sich ungestört auf den Rest Nurvias konzentrieren. Liv wusste nur eines: Nämlich, dass es nicht gut für Nurvia aussah.

„Der Präsident hat seine Gründe.“, entgegnete sie knapp.

Conec nickte. „Ich weiß… es wäre trotzdem besser, sie den Bürgen wenigstens mitzuteilen. Sonst kommen Fragen auf – und Gerüchte…“

Liv wusste genau, welche Fragen sich das Volk stellte. Sie kannte auch die Gerüchte – eines absurder als das andere. Gerüchte über die aktuelle Lage, über die Stärke und Fähigkeiten der einzelnen Tiere und über das Kellergewölbe, das nicht betreten werden durfte. Niemand kam hinter die Identität der Geheimwaffe, doch seltsame andere Geschichten rankten sich um den Keller unter Nurvia. Die Forscher hielten dort Monster gefangen und stellten unheimliche Versuche mit ihnen an. In anderen Versionen hieß es, sie würden ihre Gene manipulieren, um sie gefügig zu machen und als „Waffen“ zu benutzen. Wieder andere erzählten, es gäbe einen geheimen Nahrungsvorrat, um die wichtigsten Regierungsmitglieder bei einer vollkommenen Zerstörung der Stadt einige Wochen überleben lassen zu können.

Teilweise waren die Geschichten dermaßen unlogisch, dass Liv sich fragte, ob die Menschen sie wirklich für möglich hielten. Vielleicht war die Situation auch einfach schwer zu verkraften und sie dachten sich Geschichten aus, um bei Laune zu bleiben. Bisher hatte noch niemand ernsthaft nach diesem vermeintlichen geheimen Nahrungsvorrat gesucht.

„So wie das Gerücht um ein Mädchen, das mit Tieren spricht?“, schmunzelte Liv. Sie hoffte, dass der Themawechsel nicht zu sehr auffiel, der von den Geheimnissen der Regierung ablenken sollte.

„Ja“, meinte der Junge uns stieß die Luft so aus, dass es einem Lachen ähnelte. „Du hast schon Recht. Ein Mädchen, das mit Tieren spricht, muss sich jemand mit einer Menge Fantasie ausgedacht haben.“ Am Rande registrierte Liv erfreut, dass er ihr Angebot, sie zu duzen, angenommen hatte. In Nurvia waren Höflichkeitsfloskeln unumgänglich, doch in der Wildnis galten solche Regeln nicht. Die Gruppenmitglieder sollten sie der Einfachheit halber beim Vornamen nennen. „Aber irgendwo muss er die Vorlage dafür hergenommen haben…“

Liv runzelte verwirrt die Stirn. Eine Vorlage? „Du meinst, er muss etwas gesehen oder gehört haben, das seine Illusion veranlasst hat?“

Conec hob die Schultern. „Wie sonst kommt er auf einen so abwegigen Gedanken? Etwas muss da gewesen sein, was die Grundlage für seine Vorstellung war… vielleicht war es wirklich ein Mädchen.“

Es war auffällig, dass er wieder auf dieses Mädchen hinaus wollte. Sie wollte seine Theorie schon für unsinnig abtun, doch die Logik hinter seinen Gedanken war nicht abzustreiten. Was, wenn er Recht hatte und dort draußen tatsächlich andere Menschen waren, die die Hunter gesehen hatten?

„Wer sollte hier draußen denn sein…?“

Er holte tief Luft und Liv merkte, dass er die ganze Zeit auf seine folgenden Worte hinaus gewollt hatte. „Die Rebellen.“

Ihr Kopf ruckte zu ihm herum. „Wurdest du auch von ihrem dummen Gerede angesteckt?“ Das fehlte noch! Ein Anhänger der Rebellen in ihrer Truppe…!

„Nein“, blockte der Novize sofort ab. „Ich habe nur in Erwägung gezogen, dass sie vielleicht doch überlebt haben und noch irgendwo hier draußen sein könnten.“

„Das ist unmöglich.“, entschied Liv aus einem Reflex heraus.

Wieder dieses halbe Lachen. „Nein. Für Jule ist nichts unmöglich…“ Er sagte es so leise, dass sie sich nicht sicher war, es wirklich gehört zu haben. Verwirrung stieg in ihr auf. Sie wollte schon fragen, wer diese Jule war, doch er sprach schon weiter – dieses Mal mit etwas lauterer Stimme. „Ich bin dran mit Wache halten. Ruh du dich noch ein wenig aus. So lange ist die Nacht nicht mehr.“

Er wies auf den Mond, der seine Bahn schon beinahe vollendet hatte. Da erst bemerkte Liv, wie müde sie eigentlich war und ließ ihre Frage unausgesprochen. Später, entschied sie und verschwand nach einem dankbaren Kopfnicken in ihrem Zelt. Kaum hatte sie ihre müden Lider geschlossen, war sie auch schon eingeschlafen.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now