19. Untergang

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Die nächsten Tage verliefen etwas ruhiger als die vorhergegangenen, wenn auch nicht völlig ereignislos. Mehrere Male war ein Habichtsschnapper – ein großer, furchteinflößender Vogel mit dunkelbraunem Gefieder – über den Wald gekreist. Seine spitzen Schreie hatten ihnen alle Haare zu Berge stehen lassen. Er hatte nicht die Möglichkeit gehabt, hinunterzustoßen, solange sie sich unter dichten Bäumen aufhielten. Das war das einzige gewesen, was sie vor einem harten Kampf bewahrt hatte.

Ein weiterer Zwischenfall ereignete sich beinahe mit einem Rudel Jagdkeiler. Zum Glück stand der Wind günstig und sie konnten ihnen entgehen, ehe sie bemerkt wurden. Eine Begegnung mit einer so großen Menge an aufgebrachten, mutierten Wildschweinen wäre sicher nicht allzu glimpfig verlaufen.

Die einzigen Ungeheuer, gegen die sie sich hatten behaupten müssen, waren drei weitere Baumkatzen gewesen – und das Wetter.

Nachdem der Nebel sich verzogen hatte, hatte es plötzlich begonnen, aus heiterem Himmel zu Regnen. Dicke Tropfen klatschten von den Blättern auf sie nieder, kalt und unangenehm. Binnen weniger Minuten waren sie durchnässt bis auf die Knochen und froren. Das Ganze hielten sie nun bereits knapp zwei Tage durch. Mittlerweile hatte jeder von ihnen eine Erkältung und wünschte sich nichts sehnlicher, als im Caraunt, in seinem Bett und im Trockenen zu sein.

Missmutig schaute Liv auf die Karte. Sie war inzwischen durchweicht und kaum noch erkennbar. Die Anführerin hatte sie sich jedoch bereits tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Eigentlich hätten sie schon seit fast einem Tag angekommen sein sollen. Liv verfluchte die ungenauen Angaben, die sie bekommen hatte. Die Expeditionsgruppe, die in diesem Gebiet eingesetzt worden war, hatte offensichtlich nicht besonders viel vom Karten schreiben verstanden. Weder die Proportionen, noch die Wegangaben stimmten. Wer wusste, ob sie überhaupt in die richtige Richtung liefen!

„Conec“, rief sie nach dem Hunter, dem sie bisher am meisten vertraute. Er erschien verlässlich an ihrer Seite. Mit einem wütenden Schnauben drückte sie ihm den durchweichten Fetzen Papier in die Hand. „Hast du eine Ahnung, wohin wir gehen?“, wollte sie wissen. Es war nicht richtig, ihre Wut an ihm auszulassen, aber sie hatte schlechte Laune. Kein Wunder – in dieser Situation waren sie alle genervt und leicht reizbar.

„Ich denke, wir sind noch einigermaßen auf Kurs.“, entgegnete der junge Mann, der die ehemalige Karte kurzerhand zusammenknüllte und in die Tasche steckte. Er holte einen kleinen Kompass hervor und hielt ihn ihr hin. „Ein paar Grad sind wir nach Osten abgewichen.“

„Warum hast du das nicht schon früher gesagt?“ Liv drehte sich ein Stückchen nach links und ging weiter. Der Unterschied war wirklich nicht bedeutend. Sie hatte kein Recht dazu, ihn so anzufahren. Die Anführerin zwang sich, ruhig durchzuatmen und sich zusammenzureißen. „Die Karte ist falsch.“, gab sie schließlich grimmig von sich.

„Sie ist vor allem nicht mehr existent.“ Conec seufzte und wischte sich ärgerlich das Wasser vom Gesicht. Auch seine Nerven hatten unter der ständigen Anspannung in der Wildnis gelitten.

„Die Angaben sind nicht richtig.“, konterte Liv, „Der Rand der Schlucht hätte eigentlich schon dort hinten liegen sollen. Wir sind schon lange vorbei und – schau dich um!“ Sie machte eine allumfassende Bewegung in den Wald. „Nirgendwo eine Schlucht in Sicht!“

Auf einmal brachen sie durch die Bäume. Die dichte Wand aus Stämmen und Geäst löste sich vor ihren Augen auf und gab den Blick auf ein verregnetes Stück Land frei. Je weiter man blickte, desto trüber wurde die Luft. Der Horizont verschwand in einem undurchdringbaren Nebel.

Liv stoppte abrupt und bedeutete Conec, dasselbe zu tun. Der Novize hatte die Gefahr bereits erkannt und gab den Befehl zum Anhalten an die Hunters hinter ihnen weiter.

Vor ihnen tat sich ein metertiefer Abgrund auf.

„Das ist es“, keuchte Liv. Endlich waren sie angekommen.

Die Felswände führten steil, beinahe senkrecht in die Tiefe. Am Grund der Schlucht erkannte man die Wipfel von Bäumen. Davor erstreckten sich kilometerweite Wiesen aus frischem Gras. Der Regen und der Wind nahmen außerhalb des Waldes noch einmal deutlich zu und nahmen ihnen die Sicht – trotzdem war eine Sache dort unten ganz deutlich erkennbar:

Kurz vor dem Beginn des Waldes, zwischen den ersten Bäumen, kamen in diesem Moment Ungeheuer hervor. Man konnte sie aufgrund der Entfernung erst gar nicht richtig erkennen, doch je mehr es wurden, die sich da aus dem Wald schälten, desto deutlicher sah man sie: Eine Gruppe von Monstern, gefährlich und aufgebracht.

Sie attackierten sich nicht gegenseitig. Sie gingen geschlossen und zielstrebig und nach wenigen Minuten wurde auch klar, in welche Richtung.

Direkt auf sie zu.

Conec keuchte. „Das wird nicht gut für Nurvia ausgehen…“

„Vielleicht.“, erwiderte Liv. Sie versuchte, mit bloßem Auge zu erkennen, was für Ungeheuer es waren. Das Wissen über die Art der Angreifer war für die Hunters besonders nützlich. Sie waren jedoch zu weit entfernt, als dass sie etwas hätte erkennen können.

Liv drehte sich zu ihren Kameraden um und verlangte ein Fernglas. Die Novizen waren bereits neugierig hinter den Bäumen hervor getreten und beobachteten das Spektakel mit aufgerissenen Augen. Kaum jemand konnte den Blick von den Ungeheuern abwenden. Irgendjemand reichte ihr dann doch das gewünschte Fernglas. So konnte Liv zumindest die größten Tiere erkennen. Tigerbären. Jagdkeiler. Seltsame, schillernde Echsen. Silberweberinnen…

Viele kleine Tiere wuselten zwischen ihnen herum, doch Liv konnte sie nicht erkennen. Sie vermutete Baumkatzen und ein paar seltsame Wesen, die sie noch nie gesehen hatte. Alles in Allem war es ein heilloses Durcheinander und es kam mit ernüchternder Geschwindigkeit auf sie zu. Wenn sie so weiter machten, würden sie innerhalb von nicht einmal vier Tagen in Nurvia angekommen sein. Sie hatten keine Chance.

Natürlich mussten die Ungeheuer auch ab und zu eine Rast einlegen. Noch dazu kam eine größere Gruppe immer langsamer voran als eine kleine wie ihre, weil die schnelleren immer auf die langsamen warten mussten. Besonders bei Tieren stellte Liv sich das problematisch vor. So unterschiedlich sie alle waren, so verschieden war auch ihre Geschwindigkeit. Es war schwierig, sich auszumalen, wie viel dies an Verzögerung für sie ausmachte. Nach einigem Spekulieren kam die Anführerin auf eine Gesamtdauer von etwa einer Woche.

Eine Woche!

So wenig Zeit blieb Nurvia nur noch, um sich auf den unvermeidbaren Kampf vorzubereiten…

„Wir sollten so schnell es geht zurückkehren, damit die Stadt gewarnt ist.“, erklärte Conec, „Die Menschen sollten frühzeitig erfahren, dass da etwas auf sie zukommt.“

Liv nickte abwesend, verneinte die Idee jedoch. „Ich möchte erst sehen, wie viele es sind.“

Der Strom der Tiere, der aus dem Wald kam, brach nicht ab. Es wurden immer mehr und mehr Ungeheuer. Bald reichte der Zug sicher einen Kilometer weit und noch immer strömten neue aus den Bäumen hervor.

„Das gibt es ja gar nicht.“, keuchte Liv irgendwann. Minutenlang standen sie regungslos an der Klippe und sahen zu, wie der Wald immer mehr wütende Kreaturen ausspuckte. Was hatten die Hunter bloß getan! Wie konnte man eine so große Masse an Tieren nur dermaßen aufbringen? Liv wusste nicht, was sie dieser Menge an Monstern entgegenzusetzen hatten. Es war aussichtslos.

Die Hunter hatten ihren Untergang besiegelt.

Hunters 2 - der Pfad des Jägersحيث تعيش القصص. اكتشف الآن