32. Pfiffe

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Es war mittlerweile dunkel geworden. Eine leichte Brise ließ mir Gänsehaut entstehen und die Blätter leise rascheln. Der Wald lag still und dunkel zu allen Seiten. Wäre er nicht gewesen, hätte ich von hier aus die Stadt sehen können. Vor meinem inneren Auge baute ich sie an den Horizont. Eine graue, unbewegte Festung inmitten grüner Wiesen.

Ich hatte lange nicht mehr an Nurvia gedacht. Die Überzeugungen, nach denen ich in meiner Kindheit dort gelebt hatte, teilte ich nicht mehr mit meinem früheren Ich. Für mich zählte das, was ich jetzt war und was ich mir für die Zukunft vorgenommen hatte.

Meine Familie retten.

Thunder gesund machen.

Den Menschen eine ordentliche Lektion erteilen.

Die Zeiten in Nurvia hatte ich lange Zeit aus meinem Kopf verbannt. Erst, seit ich Conec begegnet war, waren sie mir wieder in den Sinn gekommen. Immer öfter glitt ich in ruhigen Momenten gedanklich ins alte Nurvia zurück. Was wir alles erlebt hatten: Verfolgungsjagden durch die Gassen, Kämpfe mit Stöckern auf Leben und Tod, Rutschpartien über die Dächer…

Das Leben als Kind war so unbeschwert gewesen. Man hatte sich keine Sorgen machen müssen, hatte beruhigt draußen spielen und davon träumen können, einst in die aufregende Welt der Hunter gelassen zu werden. Die Angriffe der wilden Bestien hatten wir als Abenteuer wahrgenommen und den Wachposten auf den Zinnen beim Kämpfen zugesehen. Die Monster waren die Bösen gewesen und die Menschen die Guten. Das Weltbild war unverrückbar gewesen.

Nun ließ sich nicht mehr genau festlegen, wer gut war und wer nicht.  Es handelte jeder nach seinen eigenen Interessen und nur selten dachte jemand daran, ob seine Taten moralisch vertretbar waren. Ob nach den Spielregeln gespielt wurde.

Conec, ich und die anderen Kinder aus Nurvia hatten immer daran gedacht. Wir waren die Menschen gewesen – die Guten – und wir mussten uns so verhalten. Vor jedem Spiel waren die Regeln genau festgelegt worden. Wer zum Beispiel mit Steinen geworfen hatte, war sofort disqualifiziert gewesen. Zu jeder Zeit hatte jeder Mitspieler darauf geachtet, dass auch alle richtig mitspielten. Und jeder wusste, was zu tun gewesen war, wenn jemand diese Regeln missachtete.

Ich hockte auf dem Ast eines Baumes und legte meine Finger um einen besonders langen Grashalm. Lächelnd dachte ich daran, wie früher alle Kinder mit einem solchen Instrument und einem Stock bewaffnet durch die Straßen gerannt waren. Ein besonders lauter Pfiff war in der halben Stadt hörbar gewesen. So weit musste der Schall dieses Mal nicht reichen, doch ich hoffte, dass ich nach all der Zeit noch einen deutlichen Ton erzeugen konnte.

Ich atmete tief ein und legte meine Lippen an den Halm.

Ein Pfiff tönte durch die Nacht.

Die Bedeutung war mir so klar wie eh und je: Warnung – Erwachsene waren im Anmarsch!

Ein zweiter Pfiff. Jemand hatte sich ernsthaft verletzt.

Ich schielte zu den Hunters hinunter. Sie wirkten aufgeschreckt und irritiert. Viele hielten ihre Waffen bereit und schauten sich unruhig zu allen Seiten um.

Der dritte Pfiff. Jemand hatte mit Steinen geworfen.

Mittlerweile waren die Hunters sich darüber einig, aus welcher Richtung das Geräusch etwa gekommen war. Vorsichtig pirschten sie auf mich zu, doch nur wenige Schritte. Als keine weiteren Pfiffe erklangen, blieben sie irritiert stehen.

Ich beobachtete Conec ganz genau. Die anderen mochten denken, dass es ein unbekanntes Tier war, das hier geschrien hatte. Doch Conec hatte den Klang erkannt. Auch er blieb wachsam und suchte die Umgebung ab, doch er wirkte weniger verunsichert als die anderen. Von meinem hohen Ausguck aus konnte ich seine Mimik nicht erkennen.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now