6. Entschluss

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Im Besprechungssaal herrschte unbehagliche Aufregung. Das unterschwellige Murmeln der Diskussionen rund um den riesigen Tisch reizte die ohnehin schon angespannten Nerven. Die wichtigsten Männer und Frauen Nurvias waren hier, um über die Geschehnisse außerhalb der Stadt und ihr resultierendes Handeln zu entscheiden.

Liv saß neben ihrem Vater, der sich in diesem Augenblick erhob und die Versammlung zur Ruhe rief. Es funktionierte – sofort waren die Anwesenden leise und das nervenaufreibende Summen hatte ein Ende. Stattdessen herrschte bedrückte Stille, in die das Wort des Präsidenten laut und klar einschnitt. Liv konnte seine Verstimmung bloß vermuten. Auf die restlichen Anwesenden musste ihr Vater komplett gefasst und ruhig wirken.

„Hiermit eröffne ich die Verhandlung über den Schutz Nurvias in der aktuellen, schwierigen Situation. Ich hoffe, wir kommen zu einer baldigen Lösung." Damit nickte er dem Verteidigungsminister zu, der den Bericht des Verwundeten nochmals zusammenfasste und die neusten Erkenntnisse in dieser Angelegenheit bekannt gab. Er beeilte sich, die wichtigsten Aspekte zusammenzufassen, denn niemand wusste, wie viel Zeit ihnen noch blieb. Die Sekunden schienen ihnen durch die Hände zu rinnen. Für viel Bürokratie war nicht der richtige Zeitpunkt.

„Unsere Späher im Umfeld von fünf Kilometern konnten bisher keine auffälligen Aktivitäten der Tiere feststellen. Wir bleiben weiterhin aufmerksam und verdoppeln die Anzahl der Hunters in den Gruppen, die nach Süden unterwegs sind. Expeditionsgruppen, die bereits vor der Nachricht aufgebrochen sind, sind bis auf eine einzige wieder zurückgekehrt." Der blonde Mann Mitte vierzig stemmte die Hände auf den Tisch und blickte in die Runde. „Wir benötigen dringend einen Ausblick auf die Lage."

„Sie meinen eine weitere Gruppe Späher, die sich in das Kratergebiet begeben soll?" Livs Vater runzelte die Stirn. Er war offensichtlich nicht besonders begeistert von der Idee. „Denken Sie nicht, das wäre ziemlich riskant?"

„Wir wissen nicht genau, womit wir es zu tun haben. Aus dem Verletzten war nicht mehr viel herauszubekommen, nachdem Ihre Tochter mit ihm gesprochen hat." Sein Blick schwankte kurz zu Liv hinüber. Es gelang ihr nicht, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten. „Der Blutverlust hat zugenommen und die Ärzte mussten ihn in eine künstliche Narkose versetzen. Wir haben also keine Ahnung, was uns da draußen erwartet."

Der Präsident nickte nachdenklich und sank mit verschlossener Miene in seine Gedanken zurück.

„Wir können doch nicht all unsere Bürger nacheinander in ihren sicheren Tod schicken." Der Einwand kam von der Volksvertreterin. Die braunen Locken umrahmten ihre verärgerten Züge, die wohl einmal ziemlich hübsch gewesen sein mussten. Augenringe und tiefe Sorgenfalten trübten diesen Eindruck jedoch. „Die Menschen klagen über einen regelrechten Verschleiß an Männern. Inzwischen haben wir mehr alleinerziehende Mütter in Nurvia als potentielle Hunter. So kann das nicht weiter gehen..."

„Wir befinden uns in einer absoluten Ausnahmesituation.", konterte der Verteidigungsminister. „Der Erhalt der Menschheit ist unsere allererste Pflicht, für die nun einmal Opfer gebracht werden müssen. Schließlich befinden wir uns im Krieg."

 Seine harten Worte riefen erneutes Murmeln hervor, das sofort verstummte, sobald der Präsident das Wort ergriff. „Ist es nicht möglich, sämtliche Truppen hier in Nurvia neu zu formieren und für einen Angriff zu wappnen? So hätten wir eine stärkere Abwehr..."

Der Verteidigungsminister schüttelte ungeduldig den Kopf. „Bevor wir nicht wissen, was uns bei einem solchen Angriff erwartet, können wir uns nicht auf unsere Abwehr allein verlassen. Der Überlebende sprach von tausenden Tieren. Wenn wir Pech haben, werden wir geradezu überrannt von dieser Horde." Wieder schüttelte er den Kopf. „Das ist ein Risiko, das wir nicht eingehen können. Wir müssen wissen, womit wir es zu tun haben. Wenn sie hier sind, ist es bereits zu spät."

„Wie können wir uns auf etwas vorbereiten, das unsere Kräfte bei Weitem übersteigt?", warf nun wieder die Volksministerin ein. „Wenn es zu viele Tiere sind, haben wir keine Chance – ob vorbereitet oder nicht spielt dann keine Rolle mehr."

„Das stimmt.", räumte der Ältere ein. Dann beugte er sich vor und funkelte die Sprecherin an. „Aber wenn wir es so weit kommen lassen, ist es zu spät für den Einsatz unserer Geheimwaffe."

Die Ministerin sog scharf die Luft ein. Alle anderen hielten den Atem an.

Die Geheimwaffe. Ein metallenes Gerät, das seit der Errichtung Nurvias in einem Keller vor sich hin staubte – und von dem nur die Regenten der Stadt Kenntnis besaßen. Nun - und Liv.

Die Erwähnung der gefährlichen Waffe sorgte für allgemeine Beklemmung. Niemand wollte das Ding wirklich einsetzen. Alle hatten gehofft, es auf sich beruhen lassen zu können.

Nach einer Weile des Schweigens ergriff ein älterer Mann von den hinteren Sitzen das Wort. Liv erinnerte sich weder daran, welches Minister-Amt er bekleidete, noch wie er hieß. „Wir sollten die Waffe nicht einsetzen. Das steht unter jedem moralischen Wert."

„Sehen Sie das noch genauso, wenn Ihr Leben auf dem Spiel steht?", konterte der Verteidigungsminister, der das Hauptwort der Konferenz übernommen zu haben schien. „Oder das Leben der gesamten Bevölkerung?" Als der Andere still blieb und missmutig auf seine Hände starrte, setzte sich der Blonde wieder. „Dachte ich mir."

Livs Vater ließ ein leises Räuspern vernehmen. „Es widerstrebt mir ebenfalls, die Benutzung der Waffe in Betracht zu ziehen. Es erscheint mir doch eine ziemlich drastische Maßnahme... Dennoch möchte ich Ihre fachmännische Einschätzung hören, Walter. Was sollten wir tun?"

Der Angesprochene ließ den Blick in die gesamte Runde schweifen. „Mein Plan lautet folgendermaßen: Wir brauchen ein Team aus etwa zwanzig Leuten, die sich bewusst der Gefahr stellen und uns einen besseren Überblick verschaffen. Je nachdem, was dabei herauskommt, können wir entsprechend reagieren."

Livs Vater nickte zustimmend und schaute fragend in die Runde. Die Volksministerin schien weniger überzeugt von dem Plan zu sein, merkte aber, dass die Entscheidung für den Präsidenten bereits gefallen war. „Sie müssen achtsam sein bei der Auswahl dieser Leute. Es wäre fatal, weitere Familienväter zu verlieren..."

Liv hatte die gesamte Verhandlung lang still dagesessen und zugehört. Doch jetzt konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie wollte helfen. Sie musste etwas tun – irgendetwas. Ohne lange darüber nachzudenken, hatte sie ihre Entscheidung gefällt.

„Ich mache das."

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now