46. Stille

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Als ich aus Nurvia floh, hatte ich wirklich nicht viele Gedanken an meine Familie verloren. Kara hatte sich nie mehr als nötig um uns gekümmert – wieso sollte ich mich darum scheren, wie es ihr mit meinem Verschwinden ging? Sicher hatte sie es kaum interessiert, dass ich plötzlich nicht mehr da war. Immerhin: Ein hungriges Maul weniger zu stopfen.

Großmutter hatte sich vermutlich unglaubliche Sorgen gemacht. Dennoch war sie eine Frau von Überzeugung, die anders Denkende jederzeit zuließ. Ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, wie es ihr bei meiner Flucht gegangen sein musste. Aber ich wusste, dass, wenn ich ihr erklärt hätte, warum ich weg wollte, sie es hätte nachfühlen können. Natürlich hätte sie sich auch Sorgen gemacht – und das völlig zu Recht!

Dennoch... sie hätte mich verstanden.

Leider konnte ich das nicht mehr mit Gewissheit sagen. Beim Gedanken an ihren Tod drehte sich mir der Magen um. Wie schon beim letzten Mal verdrängte ich die Grübeleien rasch wieder, um den Kopf für Wichtigeres freizuhalten.

Prompt flutete die nächste Sorge mein überfordertes Gehirn.

Wie war Klamm so rasch Hunter geworden?!

Als ich Nurvia verlassen hatte, war er fünfzehn gewesen. Da war ich mir ziemlich sicher. Aber erst mit der Volljährigkeit konnte man ins Caraunt gehen. Alles andere verbot das Gesetz.

Was um alles in der Welt hatte sich geändert!

„Das Gesetz.", antwortete Klamm, als ich ihn danach fragte. „Die Volljährigkeit wurde wieder herunter gestuft. Seit einigen Monaten ist man mit sechzehn volljährig und kann den Huntern beitreten."

„Mit sechzehn!", rief ich aus. Es war unschwer zu erkennen, dass ich diese Variante ganz und gar nicht gut hieß. Hätte man mich Anfang Sechzehn in die Wildnis geschickt, wäre ich aus purer Angst gestorben.

„In diesen Tagen muss man eben schnell erwachsen werden.", erklärte Klamm mit monotoner Stimme.

„So schnell, wie die das Gesetz ändern, kann man gar nicht wachsen.", entgegnete ich. Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte Nurvia so leichtsinnig mit seinen jungen Leuten umgehen!

Ich fuhr mir gedankenlos durch die Haare. Sie waren auf beiden Seiten wieder lang. Ein Glück! Ohne Haare schützte mich nichts vor der Kälte. Außerdem erinnerte die Frisur mich an viele Hunter, die ihre Haare kurz trugen, weil es so „praktischer" war.

Klamm wies auf die Zinnen Nurvias, die bereits hinter den Hügeln hervorlugten. „Es scheint mir nicht sinnvoll zu sein, wieder dahin zurück zu gehen. Vor allem, wenn es das Ziel der Tiere und der Bombe ist."

„Wir befinden uns überall in tödlichem Terrain.", entgegnete ich. „Wo wir sind, ist egal. Die Frage ist, was wir machen, um hier heraus zu kommen."

„Und was machen wir?"

Das war eine berechtigte Frage. Ich hatte bloß keine Ahnung, wie ich sie beantworten sollte.

Eine Rechtfertigung blieb mir erspart, denn in diesem Moment hallte der donnernde Ruf eines Klippendrachen über die Wiese. Allesamt schauten wir zum Wald hinüber – und bei dem Anblick stockte uns der Atem.

Die Tiere kamen.

Die ersten Silhouetten zeichneten sich am Horizont ab. Bisher waren nur die Beflügelten in Sicht. Habichtsschnapper. Todesbringer. Scharen riesiger Insekten.

Über allem zog der Klippendrache seine Kreise. Das majestätische Monster, voller Rachsucht und Hass.

Zurecht!

Die Menschen hatten seinen Nachwuchs getötet und sein Zuhause zerstört. Es gab nichts, was eine Mutter nicht tun würde, um ihre Kinder zu rächen. Das war bei den Menschen so – und auch bei den Tieren.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now