30. Quitt

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„Wenn er stirbt, werde ich das nicht überleben.“

Wir saßen im Gang des Klosters auf einer maroden Holzbank und warteten. Hier gab es keine Fenster – nur vom Ende des Flurs her drang ein wenig Tageslicht zu uns.  Ansonsten war es dunkel.

„Er wird nicht sterben.“, versicherte Faryd mir. Ich konnte hören, dass er von seinen eigenen Worten nicht überzeugt war. Seine Hand lag auf meiner – groß, warm und beruhigend. Er drückte sie noch ein wenig fester, um mich zu trösten. Es funktionierte nur in bedingtem Maße.

Meine Gedanken waren die ganze Zeit bei dem kranken Tigerbären, der hinter der Tür vor uns auf einem Bett lag und vielleicht nicht mehr lange durchhalten würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Ein Leben ohne Thunder…

Das überstieg meine Vorstellungskraft.

Auf einmal öffnete sich die Tür, die zu Thunders Krankenstation führte und Rashid trat heraus. Sofort war ich auf den Beinen, wollte durch die Tür zu meinem Freund rennen, doch der Mann hielt mich auf.

„Ich weiß nicht, was für eine Krankheit er hat. Sie könnte hoch ansteckend sein. Wenn du so da rein gehst, könntest du dich infizieren, Mädchen.“ Er zog an seinen Handschuhen und überreichte sie mir. Dann gab er mir auch seinen Schal, den er um Mund und Nase gebunden hatte. Erst, als ich alles ordnungsgemäß angelegt hatte, machte er den Weg frei.

Faryd trat dich hinter mich. Er hatte seinen Pullover so hoch gezogen wie ich meinen Schal. Rashid verschwand irgendwo im Gang und wir beide gingen durch die Tür.

Als ich Thunder auf dem Bett liegen sah – kraftlos und krank – durchfuhr mich ein Stich. Ich ertrug es nicht, ihn leiden zu sehen. Beinahe kamen die Tränen in mir hoch, doch ich schaffte es, sie zu unterdrücken. Etwas wackelig trat ich näher und ließ mich neben ihm auf die Bettkante sinken.

„Wie geht es dir, Thunder?“ Durch den Schal klang meine Stimme gedämpft. Behutsam strich ich über seinen Rücken, konnte durch den ledernen Handschuh aber keinen einzigen Gedanken wahrnehmen. „Es wird alles gut. Ich bleibe bei dir.“, versicherte ich. Der Tigerbär zeigte keine Reaktion. Wieder musste ich Tränen zurückkämpfen. Hilfesuchend schaute ich mich zu Faryd um. „Nimmt er mich überhaupt wahr?“

Der Mann konnte nur mit den Schultern zucken. Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht.

Ich seufzte und wandte mich wieder zu dem Tigerbären um.

Ob er ohnmächtig war oder schlief?

Oder dämmerte er nur vor sich hin und bekam alles mit, was um ihn herum passierte?

Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht, er würde bloß schlafen. Ob es ihm gut ging – dort, wo seine Gedanken gerade waren?

Ich musste es wissen! Mit einer energischen Geste zog ich an dem rechten Handschuh.

„Was tust du?!“, kam der erschrockene Ausruf von Faryd. Bevor ich meine freie Hand in Thunders Fell sinken lassen konnte, hatte er sie geschnappt und mich von dem kranken Tier weggerissen.

Mit Tränen in den Augen stolperte ich gegen ihn. „Wenn er stirbt, sterbe ich mit. So oder so. Ich muss mit ihm sprechen!“ Eher halbherzig versuchte ich, mich von Frayd loszumachen. Ich wusste, dass er Recht hatte, doch ich ertrug es nicht, nicht mit Thunder kommunizieren zu können. Was, wenn er mir etwas zu sagen hatte? Wenn er bei klarem Verstand war und niemanden hatte, mit dem er seine Gedanken teilen konnte?

Faryds Griff um mein Handgelenk war eisern, seine Stimme ruhig. „Das ist Wahnsinn. Du wirst nicht dein Leben in Gefahr bringen, um mit ihm zu reden.“

„Ich weiß…“ Jetzt kamen die Tränen in Strömen. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. „Ich weiß nicht, was ich tun soll… ohne ihn bin ich bloß ein wehrloses Mädchen mitten in der Wildnis…“

Ich merkte, wie Faryd schmunzelte. „Wehrlos?“ Wieder musste ich weinen. Er strich mir sachte übers Haar. „Wohl kaum…“

Wie lange war es her, dass ich das letzte Mal geweint hatte? Eine gefühlte Ewigkeit. Bevor ich Thunder kennen gelernt hatte, hatte ich so manche Träne vergossen. Durch ihn war ich stark geworden. Er hatte mir gezeigt, wie man in der Wildnis zurechtkam, wie man richtig kämpfte, wie man am Leben blieb…

Ohne ihn wäre ich nie dorthin gekommen, wo ich jetzt war. Vermutlich wäre ich nicht einmal mehr am Leben. Ich schuldete ihm mehr, als ich ihm je zurückzahlen konnte.

Einen Moment lang ließ ich die Schwäche noch zu, genoss die feste Umarmung, in der mich Faryd hielt. Dann hob ich den Kopf und blinzelte die Tränen weg. „Wir müssen etwas tun.“, bestimmte ich.

Faryd runzelte besorgt die Stirn. „Und was?“

Ich hatte einen Plan. Er war noch nicht besonders ausgereift und ich wusste nicht, wie, wann und mit wessen Hilfe ich ihn umsetzen sollte. Doch Thunders Krankheit machte die Situation noch dringlicher. Ich musste etwas tun. Jetzt.

„Nurvia.“, erklärte ich Faryd. „Wir müssen nach Nurvia. Das ist die einzige Chance.“ Unfassbar, dass ich mich ein ganzes Jahr lang strickt von der Stadt abgewandt hatte und nichts mit ihr zu tun gehabt haben wollte. Und jetzt schien die Zivilisation plötzlich die einzig richtige Lösung zu sein.

Faryd runzelte die Stirn. Er schien nicht besonders überzeugt zu sein, trotzdem nickte er. „Gut.“

Ich atmete einmal tief durch und schaute ihn dann direkt an. „Wenn ihr mir helft, werde ich euch das irgendwie vergelten. Ich weiß noch nicht, wie, aber mir fällt schon etwas ein.“

Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Ihr beide habt Nuh gerettet. Es sind wohl eher wir, die jetzt euch helfen müssen. Danach sind wir quitt.“ Irgendetwas sagte mir, dass er uns auch ohne Gegenleistung geholfen hätte. Er war ein Mann von Ehre und würde niemals jemand Hilfebedürftigen im Stich lassen.

„Danke.“ Ich blickte fest in seine dunklen Augen und hoffte, dass ihm die volle Bedeutung dieses Wortes bewusst wurde. Ich war ihm wirklich unglaublich dankbar – für alles, was er für uns getan hatte und noch tun würde. In der kurzen Zeit, die wir uns bisher kannten, hatten wir bereits so viel miteinander erlebt. Immer hatte er getan, was er konnte, um uns zu helfen. Ich vertraute ihm blind.

„Ich danke dir.“, entgegnete der Mann entschieden und drückte meine Hand. „Wir werden deinen Freund gesund machen. Ganz sicher…“

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now