45. Hunter

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Weil ich die Menschen nicht sofort fand, übermittelte meine Vorstellungskraft mir die schrecklichsten Gedanken. Die Gruppe hatte aus Panik einen neuen Weg eingeschlagen und ich würde sie nicht rechtzeitig finden. Ein riesiges, unbekanntes Ungeheuer hatte sie aufgespürt und allesamt verschleppt oder gefressen.

Mein Verstand versuchte, mir zu erklären, dass das alles Schwachsinn war. Trotzdem wurde der Druck auf meiner Brust erst leichter, als ich die Menschen von weitem erkannte.

Ich nahm so schnell ich konnte die Verfolgung auf. Meine Beine schmerzten. Mein Brustkorb stieß bei jedem Atemzug gegen eine unsichtbare Wand. Dennoch zwang ich mich, schneller zu rennen. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich begann, unregelmäßig und stockend zu atmen.

Dann hatte ich die Gruppe endlich erreicht. Ausrufe der Überraschung und Verwirrung wurden laut, als ich in die dicht gedrängte Menge fuhr. Die Menschen erschraken bei meinem Anblick. Ob sie mich erkannten, konnte ich nicht sagen. Es war mir auch ziemlich egal. Ich hatte nur zwei Gesichter vor Augen: Die von meinem kleinen Bruder und meiner Cousine. Mehr als ein Jahr war verstrichen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

Was, wenn ich sie gar nicht erkannte? Wie sehr konnten sie sich in dieser Zeit verändert haben?

Wie ein Blitz fuhr mir ein Bild in den Sinn. Eine dunkelhaarige Frau. Blasse Lippen, helles Gesicht. Schlank, jung und genauso schön, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte.

Abrupt blieb ich stehen, suchte sie in der Menge. Eben gerade hatte ich sie noch gesehen! Obwohl mich viele Gesichter anstarrten, war ihres nicht dabei. Menschen zogen vorbei und versperrten mir immer wieder die Sicht. Hatte ich mir das nur eingebildet?

Meine Hoffnung war stärker als der Zweifel. Sie trug mich weiter. Dorthin, wo ich Kara gesehen hatte. Dorthin, wo sie hingelaufen sein könnte. Zwei Frauen mit schwarzen Haaren packte ich an den Schultern und drehte sie herum. Aufschreie der Empörung und des Schreckens wurden laut. Wie ich wohl aussehen musste für die Menschen? Wie ein aufgeschreckter Waldgeist, der in ihrer Mitte wütete?

Plötzlich sah ich Kara.

Und sie sah mich. Die Augen vor Überraschung und Verwirrung weit aufgerissen.

Mit raschen Schritten drängelte ich mich durch die Menge zu ihr herüber, bis ich nur noch wenige Meter vor ihr stand. Jetzt erkannte ich sie richtig. Sie war dünner geworden. Sorgenfalten und leichte Augenringe hatten sich in ihr schönes Gesicht gestohlen. Waren das die Folgen eines entbehrungsreichen Lebens in Nurvia?

Mit einer Hand klammerte Kara sich an den Arm eines Mannes, den ich nicht kannte. Er war groß und durchtrainiert. Erst beim zweiten Hinsehen stellte ich fest, dass ihm eine Hand fehlte. Sicher ein ehemaliger Hunter, der aufgrund seiner Verletzung den Beruf gewechselt hatte und in der Stadt lebte.

Verdammt, schoss es mir durch den Kopf, sie wird ihn mitnehmen wollen!

Ich bezweifelte, dass eine weitere Person auf den Drachen passen würde. Virno hatte so schon mehr zu tragen, als sie es jemals getan hatte.

Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Ich würde sie alle mitnehmen und Faryd übergeben. Wenn Karas neuer Freund ein Ehrenmann war, würde er bleiben, um sie und ihren Cousin zu retten. Und ich war mir sicher, dass er ein Mann von Ehre war. Meine Cousine hatte nicht nur Geschmack, sondern auch Vernunft, was Männer anging. Wenn sie sich einen Mann an ihrer Seite suchte, war es einer, der sein Leben für sie aufgeben würde.

„Kara!" Die wenigen Meter, die mich von ihr trennten, legte ich in Rekordtempo zurück.

Die Frau sah mich irritiert an. Sie brauchte eine Weile, bis ihr Gehirn die Lage so weit erfasst hatte, dass sie etwas sagen konnte.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt