52. Blau

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„Nein!" Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. „Nein, lass mich los. Lass mich bei ihm sein!" Wie eine Furie kratzte und trat ich nach allem, was versuchte, mich von ihm fernzuhalten. Streckte meine Hände nach dem Toten aus, der im blutverschmierten Gras lag. Meine Sicht war verschleiert von Tränen. In meinen Ohren klingelten meine eigenen Schreie. Ich spürte jede einzelne meiner Wunden. Trotzdem konnte ich an nichts anderes denken.

Jule, wir müssen hier weg. Die Gedanken strömten durch meinen Kopf, versuchten, eine beruhigende Wirkung auf mich zu haben. Doch ich weigerte mich strikt, die Worte anzunehmen. Ich traf mit meinem Ellenbogen etwas Weiches. In meinen Gedanken spürte ich, dass es wehtat, doch er ließ mich nicht los. Verbissen schleifte er mich noch weiter vom Schlachtfeld weg. Ich schrie und tobte, doch es nützte nichts. Bald schon berührte ich Gras, das nass vom Regen war und nicht vom Blut. Das Lager geriet außer Sichtweite und damit alle Toten...

„Lass mich endlich los!", versuchte ich es ein letztes Mal. Doch meine Kräfte neigten sich dem Ende zu. Die nächsten Schläge waren halbherzig und verletzten das Tier, das seine Zähne in meinem Oberteil verbissen hatte, gar nicht. Bald kniff ich die Augen zusammen, hörte auf, mich zu wehren und weinte. Mein Körper wurde von zahlreichen Schluchzern durchgeschüttelt und ich blieb auf dem nassen Rasen liegen. Ich kam mir schmutzig vor. Von mir aus hätte in diesem Moment die elende Bombe in die Luft gehen können – mich hätte es nicht gestört.

Eine warme Schnauze legte sich sanft auf meinen Arm. Du riechst nach Blut, hallte es in meinem Kopf nach. Die Schnauze wanderte nach oben, dorthin, wo die Kugel mitten durch meinen Arm gegangen war. Wie er es in der Wildnis so oft getan hatte, leckte er meine Wunden und verteilte seinen desinfizierenden Speichel über meinen gesamten Arm.

Die Schluchzer ließen nach. Es dauerte Ewigkeiten, bis sie versiegten und mich mit meiner Trauer zurückließen. Hin und wieder durchzuckte es meinen Körper; manchmal vor Schmerz, wenn das Tier eine Empfindliche Stelle berührte. Die schrillen Schreie machten einem leisen Pfeifen in meinen Ohren Platz. Anstatt Pistolenschüssen hörte ich meinen ruhigen Atem.

Schließlich überwand ich mich dazu, mich auf den Rücken zu drehen. Alle Knochen taten mir weh, ich verzog gepeinigt das Gesicht. Dann öffnete ich meine Augen.

Blau.

Wie bei unserer ersten Begegnung raubte mir Thunders Blick den Atem. Die riesigen, himmelblauen Augen, die mich voller Zuneigung und Sorge ansahen. Ohnmächtig, ohne zu wissen, wie er mir helfen konnte. Geht es dir jetzt besser? Seine Schnauze begann, meinen Körper nach weiteren Verletzungen abzusuchen. Er entdeckte eine Schusswunde an der Hüfte, die ich selber noch nicht bemerkt hatte. Eine Kugel musste mich gestreift haben.

Es kann nicht gesund sein, so viel Flüssigkeit auf einmal zu verlieren. Er meinte sowohl das Blut als auch meine Tränen. Ich musste unwillkürlich lächeln. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte ich mich aufzurichten, musste jedoch passen. Stattdessen nahm ich Thunders Kopf in meine Hände, küsste ihn auf die Schnauze und vergrub mein Gesicht in seiner wuscheligen Mähne. Sein Fell war so durchnässt wie meine Kleidung, doch das machte mir nichts aus.

Wenn wir nicht bald von hier verschwinden, kommen die Tiere, gab Thunder zu bedenken. Ich beachtete seine Sorge nicht.

„Thunder" Ich schniefte in sein Fell, einfach nur glücklich, ihn bei mir zu haben. Dann kam mir ein anderer Gedanke und ich zog meine Stirn in tiefe Falten. „Was machst du hier?" Sorge durchflutete mich. „Wie geht es dir? Haben die Medikamente geholfen?"

Der riesige Tigerbär bejahte. Ich bin froh, endlich wieder laufen zu können. Das ist ein schönes Gefühl... als könnte ich ohne Pause einmal um die ganze Welt rennen!

Ich spürte, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Medikamente waren wirklich überraschend gut angesprungen, doch zur vollständigen Genesung fehlte dem Tigerbären Einiges. Dennoch stand er wieder auf den Beinen, wenn auch etwas wackelig. Immerhin hatte er es bis hierher geschafft. Der Stolz und die Freude über seine neugewonnene Kraft waren ihm deutlich anzusehen.

Ganz im Gegensatz zu mir. Ich konnte mich nicht einmal mehr aufrichten. Bei meinem nächsten Versuch schnappte der Tigerbär sich mein Oberteil und zog. Zusammen bekamen wir es irgendwie hin, mich auf seinen Rücken zu hieven. Ich richtete mich so weit auf, wie ich konnte und starrte zum Lager der Hunter hinüber.

Der Kampf war vorbei. Nur ein kleines Grüppchen Menschen war übrig geblieben und kauerte inmitten der Leichenberge. Zwei Hunter suchten unter den Kameraden nach Überlebenden. Ich erkannte Conec, der sich über die Präsidententochter gebeugt hatte und eine besonders große Wunde an ihrem Bein versorgte. Ihrem lauten Gestöhne nach war sie am Leben und nicht gerade harmlos erwischt worden.

Mein Blick wanderte weiter und erfasste Klamm, der am Rande des Schlachtfeldes saß und ausdruckslos auf die Toten starrte. Ihm schien nichts zu fehlen – bis auf seine Emotionen. Es war mir nicht möglich, durch seine regungslose Miene zu blicken. Entweder war er starr vor Schrecken oder aber er fühlte wirklich nichts.

Der Verteidigungsminister war tot. Seine Leiche lehnte an dem metallenen Kasten, die Augen leer und blicklos. Aus seiner Schläfe aus bahnte sich ein dünnes Rinnsal Blut seinen Weg über die blasse Haut.

Wir hatten gewonnen.

Doch es fühlte sich nicht an wie gewinnen. So viele mussten für dieses Ende sterben. So viele würden noch sterben. Und so viele starben in diesem Moment.

Die Tiere würden unser aller Ende bedeuten. Voller Rachedurst auf etwas, auf das wir gar keinen Einfluss mehr hatten, würden sie jeden einzelnen von uns umbringen. Die Menschen würden sich verteidigen und noch mehr Tiere töten. Überall nur Tod, wohin man sah!

Konnten wir das nicht besser? War es uns nicht möglich, gemeinsam auf diesem Planeten zu leben? Waren die Menschen zu stolz, den Tieren etwas von ihrem Imperium abzugeben und die Tiere zu ignorant, zu verstehen, dass wir ihnen nichts Böses wollten?

„Nein", dachte ich auf einmal. „Sie wissen es nur nicht. Weil wir uns nicht verständigen können."

Ohne es zu wollen hatte ich geflüstert. Thunders Gedanken wurden sofort aufmerksam. Er wollte wissen, was in mir vorging. Er konnte mich verstehen. Er war der einzige, der auf meiner Seite stand, weil er mich verstand. Warum nur war das mit anderen Tieren nicht möglich...!

Und dann kam mir die entscheidende Eingebung. So simpel, dass ich mich wunderte, wieso es mir nicht schon vorher eingefallen war. Alles, was ich wollte, war, dass niemand mehr sterben musste. Wenn das funktionierte, konnte ich eine Menge bewirken.

„Thunder?", bat ich meinen Freund um Hilfe. „Kannst du laufen?"

Seine Ohren zuckten bei diesen Worten. Nichts auf der Welt würde er lieber tun. Wohin?

Nie im Leben war ich so glücklich darüber gewesen, dass der Regen geendet hatte und man den Lauf der Sonne erkennen konnte. Ich zeigte nach Osten, dort, wo ich etwa Nurvia vermutete. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.", bestimmte ich.

Thunder sammelte sich und trabte in die richtige Richtung. Ich krallte mich in seine Mähne. Sie war weich und wärmte meinen durchgefrorenen Körper. Ich spürte, wie er alle Muskeln in seinem Körper anspannte. Sein Atem erreichte einen ruhigen Rhythmus mit kräftigen Zügen. Thunder sammelte Energie und Energie

Dann stürmte er los.



Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now