49. Unterzahl

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Ich war wirklich froh, dass ich Faryd bei mir hatte. Auch, wenn ich mir bitter wünschte, er wäre mit den anderen geflohen, beruhigte mich seine Anwesenheit. Er wirkte so sicher. So selbstbewusst und beschützend. Auch, wenn ich wusste, dass es nur eine Fassade war, war ich ihm unglaublich dankbar für das, was er tat.

Zu meiner Rechten stapfte Klamm, stumm und trotzig. Leider konnte ich nicht in seinen Kopf sehen, um zu erkennen, was er wirklich vorhatte. Es war schon seltsam: Jahrelang waren wir derselben Meinung gewesen, hatten dasselbe Ziel gehabt.

Hunter werden. Unsere Eltern rächen. Die Tiere vernichten.

Heute konnte ich beim besten Willen nicht sagen, was in dem Kopf meines Bruders vorging. Das machte ihn unberechenbar und damit zu einer Gefahr. Wie man mir schon im Caraunt beigebracht hatte: Ein Hunter, dessen Loyalität man sich nicht sicher war, war eine Gefahr für sich und andere und gefährdete die gesamte Mission.

Mein Bein begann zu schmerzen. Die Wunde, die ich mir zugezogen hatte, schien tief zu sein, hatte jedoch keine wichtigen Muskeln oder Sehnen getroffen. Sie behinderte mich nicht – trotzdem musste ich darum kämpfen, mir die Schmerzen nicht ansehen zu lassen.

Ich hielt mich an Faryds beruhigende Ausstrahlung und seinen regelmäßigen Schritt. Das lenkte mich ab und ließ meine Gedanken klar werden. Beinahe war ich versucht, meine Hand in seine zu legen, um auch noch etwas von seiner Wärme aufzunehmen. Doch zum einen hielt er das Kompass-Ding fest, um immer wieder zu kontrollieren, ob wir in der richtigen Richtung waren. Zum anderen war jetzt nicht der Richtige Zeitpunkt für Sentimentalitäten.

Nach einem tiefen Atemzug versuchte ich, die Situation in ihrer Gänze zu erfassen.

Wir suchten Conec, der seinerseits versuchte, die Welt zu retten. Jeden Moment konnte eine Bombe in die Luft gehen, die uns alle vernichtete. Die Tiere, die uns auf den Fersen waren, hatten offenbar unsere Spur verloren. Oder sie waren von dem blutigen Schlachtfeld abgelenkt worden, das wir hinterlassen hatten. Wenn dem so war, schien ihnen die Jagd auf Menschen nicht besonders wichtig zu sein – nicht wichtiger jedenfalls als eine frisch servierte Mahlzeit.

Ich seufzte und dachte an alles andere, das in diesem Augenblick passierte.

Die Nurvianer wurden von dem Ansturm der Tiere erfasst. Hatten sie die Menschen bereits eingeholt? Wenn nicht, hätten sie es in den nächsten wenigen Minuten geschafft. Bedauern durchzuckte mich. All diese Menschen würden innerhalb von wenigen Augenblicken ausgelöscht werden. Natürlich waren sie selber Schuld daran – aber irgendwie war ihr Verhalten auch verständlich gewesen. Und die komplette Auslöschung hatten sie nicht verdient... oder doch?

Irgendwie war ich ganz froh, keine Möglichkeit zu haben, in das Geschehen einzugreifen. Um keinen Preis der Welt wollte ich über das Leben oder Sterben so vieler Menschen entscheiden. Ich konnte verhindern, dass die Atombombe gezündet wurde. Dafür würde ich tun, was ich konnte.

Automatisch wurde mein Schritt ein wenig schneller. Alles hing davon ab, ob wir rechtzeitig ankamen oder nicht. Weder wusste ich, wie viel Zeit uns noch blieb, noch, wie weit der Weg war, den wir zurückgelegt hatten. Vielleicht, dachte ich, haben Conec und seine Leute die Menschen schon aufgehalten. Wenn wir ankommen, ist bereits alles gerettet.

Irgendwie bezweifelte ich, dass es so sein würde. Aber der leichte Hoffnungsschimmer tat mir gut.

Mit Trauer im Herzen dachte ich an Faryds Familie, die auf sich gestellt möglichst weit von hier weg reiste. Nuh, Rashid und Amani – zwei davon noch Kinder, einer ein alter Mann. Kethert war dabei, um ihnen zu helfen, doch er hatte seinerseits eine schwangere Frau bei sich. Wenn ihnen etwas zustieß, würden Faryd und ich uns bis ans Ende unseres Lebens Vorwürfe machen.

Meine Gedanken glitten beinahe ohne mein Zutun zu dem, was mir neben all diesen Dingen am aller meisten Sorgen bereitete.

„Wie geht es Thunder?" fragte ich mit Furcht im Herzen.

„Erstaunlich gut.", antwortete Faryd. „Etwa eine Stunde nachdem ich ihm das Medikament gegeben hatte, öffnete er seine Augen. Ich habe mich richtig erschrocken. Sein Kampfgeist ist erstaunlich." Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Ohne mein Zutun bildete sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht. „Er hat versucht, aufzustehen, aber es hat nicht funktioniert. Bevor ich hierher kam, habe ich ihm noch eine Dosis gegeben. Etwas mehr, als auf der Verpackung angegeben war – der Körpergröße entsprechend."

Erleichterung pur floss durch meine Adern. Am liebsten hätte ich Faryd vor Dankbarkeit erdrückt. „Also wird er wieder ganz gesund, ja?"

„Es hat den Anschein, ja. Ich will dir nicht zu viel versprechen, aber... das Medikament schlägt wirklich erstaunlich gut an."

„Es ist ja auch aus Nurvia.", meldete sich Klamm zu Wort. Sein Blick war grimmig geradeaus gerichtet. „Von Leuten, die etwas davon verstehen, weil sie in der Zivilisation daran geforscht haben. Und nicht mit wilden Bestien draußen spielen gegangen sind..."

Am liebsten hätte ich ihm einen schneidenden Kommentar zurückgeworfen, doch ich hielt mich im letzten Moment zurück. Schließlich war er mein Bruder und mein Verbündeter. Auch, wenn er sich im Moment nicht so benahm.

Die bissige Bemerkung hatte unsere kleine Gruppe verstummen lassen. Schweigend stapften wir durch die Regen getränkten Wiesen, ohne einen sichtbaren Anhaltspunkt, wo wir uns befanden. Die einzige Orientierungsmöglichkeit war das kleine, technische Gerät, das Faryd in den Händen hielt und dessen winziger Nadel wir strikt folgten.

„Was ist das eigentlich genau?", überwand ich mich schließlich, zu fragen.

Faryd zuckte die Achseln. „Wie es heißt, kann ich dir auch nicht sagen." Er deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Sein Besitzer meinte, seine Tochter trüge einen Sender bei sich, der dem kleinen Gerät hier Signale gäbe." Sein Finger zeigte in die Richtung, in die wir gingen. „Irgendwo da hinten muss sie sein und dein Freund ist auf dem Weg zu ihr. Wenn wir sie finden, finden wir auch ihn. Und hoffentlich auch die Atomwaffe. Ich kann dir nicht sagen, wo genau sie sind oder wie lange es noch dauert. Alles, was das kleine Ding kann, ist uns den Weg zu zeigen."

Ich nickte nachdenklich.

Ein Gerät, das einen Sender auffangen soll? Und Liv sollte das Gegenstück dazu haben? Das klang für mich alles sehr rätselhaft. Aber welche Alternative hatten wir, als darauf zu vertrauen, dass es stimmte?

Klamm seufzte genervt. „Es ist ein Chip. Er sendet Frequenzen ab, die das Ortungsgerät aufnimmt." Er wischte sich das ganze Wasser aus dem Gesicht. „Die Forscher haben erst vor kurzem einen Prototyp entworfen. Eigentlich werden die Dinger noch nicht verwendet." Er tat, als wären wir die dümmsten Menschen dieser Erde, dass wir das nicht wussten. „Offenbar hat man für die Tochter des Präsidenten eine Ausnahme gemacht..."

Und schon flammte Verstehen in Faryds Blick auf. Der Mann, dem er gerade noch die Hand geschüttelt hatte, war der Präsident der böswilligen Stadt Nurvia...

„Seht mal", rief ich, um die beiden Männer auf andere Gedanken zu bringen. „Die Wolken lichten sich."

Tatsächlich wurde der Regenguss nach und nach schwächer. Weit in der Ferne konnte man einen Flecken Himmel erahnen, der nicht komplett grau und zugezogen war. Es regnete zwar noch immer in Strömen, doch immerhin konnte man sehen, wohin man lief.

Und nur wenige Minuten später erkannten wir das Ziel unserer Reise. Gerade, als wir uns einen flachen Hügel hinaufschleppten, kam es in Sicht: Eine sich bewegende Menschentraube, die sich um einen Gegenstand reihte.

Einen großen Gegenstand.

Einen gefährlich aussehenden Gegenstand.

Wir warfen uns beinahe gleichzeitig ins Gras, bevor jemand uns bemerken konnte. Durch den nassen Schlamm krochen wir vorwärts, um die Szenerie ungesehen beobachten zu können. Etwa ein Dutzend Menschen, die Hälfte davon bewaffnet.

Und wir in der klaren Unterzahl, lagen im Matsch und standen vor der entscheidenden Frage:

Was sollen wir jetzt tun?

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now