38. Liv

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Die starke Anführerin mit der entschlossenen Miene und den wilden, blonden Haaren, führte die aus Novizen bestehende Expeditionsgruppe auf die riesige, steinerne Stadt zu. Die jungen Hunters waren erschöpft und in ihrer Zahl stark dezimiert. Von den ursprünglich zwanzig Mitgliedern waren gerade noch neun übrig geblieben. Sie alle sahen furchtbar aus. Ihre Gesichter waren abgezehrt, die Körper schlapp und die Nerven bis zum Zerreißen gespannt.

Liv traute sich gar nicht, sich umzusehen. Virvi, Rubie und Zitra – die letzten überbliebenen Mädchen der Gruppe – liefen eng aneinander gedrängt. Immer wieder warfen sie angsterfüllte Blicke zu allen Seiten. Die besorgniserregend häufigen Angriffe in den letzten Tagen hatten sie schreckhaft werden lassen. Liv taten sie leid. Sie waren noch so jung und mussten schon so viel mitmachen.

Ansonsten waren da noch Zarrck und Blejdn – zwei junge Männer mit abgehetzten Gesichtern. Terrek ging wie immer weit abseits der Gruppe und schwieg eine noch schwerere Stille als alle anderen. Er trauerte um seinen Bruder Febjan, der vor vier Tagen bei einem Jagdkeiler-Angriff ums Leben gekommen war.

Oder waren es fünf Tage gewesen?

Liv verlor allmählich das Zeitgefühl. Sie war sich nicht sicher, wie viele Tage sie bereits durch die Wildnis geirrt waren. Das erste, was sie innerhalb der Mauern von Nurvia – in der Zivilisation – tun würde, war, nach dem Datum zu fragen.

Und einem Schluck Wasser.

Einem ganzen Eimer am besten. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal mit genügend Wasser ihren Durst gestillt hatte. Ihr Mund fühlte sich an wie feuchte Pappe.

Es war ein kollektiver Seufzer der Erleichterung gewesen, als die dunklen Stadtmauern mit einem Mal am Horizont aufgetaucht waren. Bei keiner Reise hatte Liv sich jemals so sehr gefreut, die Stadt wieder zu sehen. Normalerweise war das Leben dort öde und nur wenig abwechslungsreich. Nun erschien es ihr als angenehme Ruhestätte, um einige Momente entspannen zu können.

Doch lange würde es nicht andauern. Bald schon würde das Unglück wieder vor der Tür stehen. Vorher hatten sie noch einige Dinge zu erledigen.

Conec und Rey waren die letzten beiden, die noch am Leben waren. Die Männer, die vorne an ihrer Seite marschierten, waren die einzigen beiden, die sie in ihre Pläne eingeweiht hatte. Die einzigen beiden, denen sie ausreichend vertraute, um ein solches Vorhaben kundzugeben.

Zum Glück waren beide von der Idee angetan gewesen. Besser gesagt: Conec hatte sie überhaupt erst auf den Gedanken gebracht. Seine Art, die Welt zu sehen, erstaunte sie immer wieder. Die Dinge nicht einfach hinzunehmen und die Obrigkeit machen zu lassen, sondern Einwände zu erheben, wenn einem etwas nicht passte.

In diesem Fall fürchtete Liv, dass einfache Einwände gegen das Vorhaben der Regierung nichts ausrichten würden. Sie würde mit ihrem Vater reden, doch sie bezweifelte, dass er noch großen Einfluss auf das Vorgehen gegen die Tiere hatte. Der Verteidigungsminister hielt alle Fäden in der Hand. Es war ihre Aufgabe, ihn aufzuhalten. Es war Unrecht, was er tat.

Deshalb konnte man den anderen nicht davon erzählen. So zu denken – gegen die Bestreben der Regierung vorgehen zu wollen –, war Hochverrat. Bekamen es die falschen Menschen zu hören, würde das ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen.

Bestrafung.

Verhaftung.

Schmerzhafte Strafen...

All das stand der Gruppenführerin bevor, sollte nicht alles nach Plan verlaufen.

Doch in Anbetracht der kommenden Ereignisse war das nicht einmal das Schlimmste, das ihr zustoßen konnte. Es war sogar geradezu trivial. Unnötig, sich darüber zu sorgen.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now