55. Freiheit

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Im abendlichen Dämmerlicht waren die Häuser Nurvias nichts anderes als schwarze Klötze. Der Himmel hatte einen tief dunklen Rotton angenommen. Ich konnte es kaum erwarten, ihn in seiner vollen Gänze zu sehen.

Doch das würde erst möglich sein, wenn ich aus den Stadtmauern herausgetreten war.

Ich saß auf einem Betonklotz und beobachtete ein merkwürdiges Tier, das sich ins Dorf geschlichen hatte. Eine silberne Schlange, nicht viel länger als meine ausgestreckte Hand. Sie schlängelte durch Schutt und Schmutz auf der Suche nach etwas Essbarem. Ich war versucht, ihr ein Stück Brot hinzuwerfen, doch ich wusste nicht, ob sie es anrühren würde. Zum Verschwenden war es mir zu schade.

Ich bemerkte eine Bewegung hinter mir. Es war Rashid. Ich schaute nicht auf, als er sich zu mir setzte. Meine Gedanken waren anderswo – ganz weit weg an einem Ort, an den man erst gelangen konnte, wenn das alles hier vorbei war.

An einem Ort, an dem ich Faryd wiedersehen würde.

Ich hatte nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Niemand hatte daran geglaubt. Die Wissenschaft hatte klar belegt, dass so etwas unmöglich war.

Doch ich hatte von alten Religionen und Glaubensrichtungen gehört, in denen so etwas gepredigt wurde. Ein Ort, an dem alles besser werden würde. Ein Ort, an dem sich alle nach ihrem weltlichen Leben versammelten und ohne Zank und Streitigkeiten ihr Leben miteinander führten.

Es war in jedem Fall ein tröstlicher Gedanke, Faryd irgendwann einmal wiederzusehen. Vielleicht gab es tatsächlich ein Leben nach dem Tod – eines, das die Wissenschaft nicht erfassen und nicht untersuchen konnte. Wenn es so wäre, müsste ich nicht mein ganzes Leben damit verbringen, mich nach Faryd zu sehnen. Ich nahm an, dass gerade aus diesem Grund diese Glaubensrichtungen entstanden waren. Die Leute sehnten sich nach Trost und der Gewissheit, dass alles wieder gut werden würde – irgendwann. Und da der Tod etwas Unfassbares, Ungreifbares war, nahmen sie ihn als Grundgerüst für Spekulationen und Fantasiewelten.

Ich nahm mir vor, mir diese Religionen genauer anzuschauen. Vielleicht würde mich eine von ihnen überzeugen.

Eine lange Pause entstand, während die Schlange im Geröll verschwand und kurz darauf wieder auftauchte. Ich fragte mich, ob sie keine Angst vor uns hatte oder ob sie uns einfach nicht sah. Vielleicht hatte sie von dem Waffenstillstand gehört und war wagemutig genug, diesen hypothetischen Zustand auf die Probe zu stellen.

„Sie heißen Silberleichen.", erklärte Rashid, der die Bewegungen des Tieres genauso gebannt verfolgte wie ich. „Den Namen haben sie sich verdient, indem sie einen merkwürdigen Umgang mit dem Tod haben. Stirbt eine von ihnen oder ist im Begriff, zu sterben, verschlingt eine andere sie in einem Stück. Die Körper der beiden passen sich einander an und verweben sich, bis hin zur kleinsten Faser. Auch das Gehirn. Ich kann dir nicht sagen, welche von beiden weiterlebt oder ob sie zu einem ganz neuen Individuum verschmelzen. In jedem Fall ist es faszinierend..."

Ich nickte. Was hätte ich dafür gegeben, so etwas zu können! Faryd teilweise ins Leben zurückzurufen, ihn in mir aufzunehmen...

Zugegeben – die Vorstellung war schon ziemlich schräg. Doch ich hatte schon weitaus merkwürdigere Dinge erlebt. Wenn man sich in der Tierwelt ein wenig auskannte, waren solche Methoden beinahe alltäglich.

Aus der Ferne hörte man ein tiefes Grollen – wie ein aufziehendes Gewitter. Thunder wurde ungeduldig.

„Ich muss gehen.", erklärte ich und stand auf. Rashid tat es mir gleich und zog mich in eine feste Umarmung. Er sagte nichts zum Abschied. Es war nicht seine Art, sentimental zu werden.

Ich wandte mich Virno zu, die sich zu uns gesellt hatte. Normalerweise kam sie nicht ins Dorf, vermutlich aus ähnlichen Gründen wie Thunder. Doch für mich machte sie eine Ausnahme. Ich erinnerte mich, wie Faryd sich von ihr verabschiedet hatte, kurz bevor wir in das Massaker gezogen waren. So wie er streichelte ich Virnos Schnauze und küsste sie auf die Stirn.

Hunters 2 - der Pfad des JägersWhere stories live. Discover now