22 - Evelyn: Hellgelbschmerz

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Anna fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ganz plötzlich, fast lautlos, nur das leise Rascheln ihrer Kleider ist zu hören, als ihr Körper zusammensackt.

„Anna?"

Jaydens Stimme ist zu laut und voller Panik, und er atmet heftig, als er sich zu der Gestalt seiner Schwester hinabbeugt, sie berührt.

Ich spüre, wie auch mein Herz beginnt, schneller zu schlagen.

Scheiße. Scheiße, gottverdammte Scheiße.

Die letzten Schritte zu den beiden renne ich fast.

„Was ist mit ihr?", frage ich, atemlos, nicht etwa, weil die paar Meter anstrengend gewesen wären, sondern weil die Angst mir den Atem raubt.

Jaydens Stimme verrät mir, dass es ihm genauso geht. „Ich hab keine Ahnung! Eben schien es ihr noch gut zu gehen, und von jetzt auf gleich..."

Ich spüre, wie mein Atem in meiner Brust erzittert. Ich werfe Jayden einen panischen Blick zu. „Scheiße, Jayden, ich ruf' einen Krankenwagen", sage ich mit einer Stimme, die ich kaum wiedererkenne.

Er sieht mich nur ganz kurz an, nickt flüchtig, um meine Worte zu bestätigen. Seine Pupillen sind riesig. Er ist blass.

Meine Hände beben, als ich mein Handy aus der Tasche ziehe und den Notruf wähle. Ich halte mir das Handy ans Ohr. Es tutet zwei Mal, dann ertönt eine Frauenstimme. Sie sagt etwas, irgendetwas in Richtung von „was kann ich für sie tun", aber ich höre es nicht, weil ich sofort anfange, zu reden. „Meine Freundin ist umgekippt, sie hat Leukämie, Blutkrebs im Endstadium, sie soll bald sterben und jetzt ist sie zusammengeklappt, einfach so", rattere ich herunter. Dann sage ich ihnen Annas Namen, ihr Alter, wo wir sind. Die Fakten wirken so seltsam, wenn ich sie sehe. Wie sie da auf dem Boden liegt. Sie sieht so klein aus. Zerbrechlich. Vielleicht schon zerbrochen.

Inzwischen sind andere Menschen zu uns gekommen, tuscheln, sehen das Mädchen an, das da auf dem Boden liegt.

„Hat sie noch einen Puls?", fragt die Frau im Hörer.

Ich wiederhole ihre Worte laut in Richtung Jayden, ich rufe, nein, schreie fast. Er greift sofort nach ihrem Handgelenk, legt zwei Finger auf die Stelle kurz vor ihrer Handfläche.

Die Herzschläge, die vergehen, erscheinen mir wie Jahre. Dann lässt Jayden sie los, stößt einen rasselnden Atemzug aus. „Ja, ja, schwach, aber ja", seine Worte sind voller Panik.

Ich reiche es an die Frau weiter, knie mich neben Jayden, nah an Anna heran, nah genug, dass ich spüre, dass sie warm ist.

Er greift nach meiner Hand, und wir halten uns aneinander fest.

„Ein Wagen ist in sieben Minuten bei Ihnen", erklärt die Frau. „Sehen Sie ab und zu nach ihrem Puls und legen Sie sie auf den Rücken, damit sie am besten atmen kann."

Ich nicke hektisch, mehrmals. „Ja, gut, okay, machen wir, danke", nuschle ich. Ein Tuten verkündet mir, dass sie aufgelegt hat. Gespräch beendet. Jemand kommt.

„Jemand kommt", sage ich, und Jaydens Lippen verlässt ein erstickter Laut. „Jemand kommt", wiederhole ich, vielleicht, um ihn zu beruhigen, vielleicht um mich selbst zu beruhigen, dann drehe ich Anna vorsichtig um, sodass sie frei atmen kann. Greife nach ihrem Arm, lege zwei Finger an ihr Handgelenk. Puls? Ja, doch, da ist er.

„Jemand kommt", erkläre ich wieder. Ich drehe den Kopf zu Jayden. Er sieht seine Schwester an, scheint meine Worte nicht zu registrieren. Sein Gesicht ist aschfahl, seine Lippen beben.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now