Neunzehnter Brief: Wer fliegt und wer fällt

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Wirst du meine Flügel

Heilen, wenn ich dir die deinen

Aus den Scherben zusammensammle?

{Aber das kann ich nicht,

denn ich würde mir die Finger

zerschneiden}


Jonathan,

Ich habe Jayden heute die Autobahnbrücke gezeigt. Er hat mir auch einen Ort gezeigt, einen, von dem ich nicht erzählen werde, weil es privat ist. Aber es war etwas Gegenseitiges. Und wir vertrauen uns jetzt noch mehr.

Weißt du, seit du fort bist, ist Jayden einer der wenigen, denen ich vertraue. Ich vertraue ihm blind, bedingungslos.

Was eigentlich verrückt ist. Ich kenne ihn schließlich erst seit kurzem – nicht mal ganz zwei Wochen. Aber trotzdem.

Vielleicht ist es, weil er eine ähnliche Art von Schmerz verspürt wie ich, weil er an einem ähnlichen, zu frühen Verlust kaputt geht – oder eher kaputt gehen wird. Und ich habe eine solche Angst davor.

Weil ich nicht weiß, was ich dann tun soll. Ich komme ja selbst kaum klar. Du bist tot, und wenn... wenn Anna tot ist, dann zerbrechen wir beide. Jayden und ich. Und ich weiß nicht, ob wir dann noch stark genug sind, um den anderen zu halten.

Andererseits: vielleicht fallen wir auch zusammen.

Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir den Hügel so schnell herunter gerannt sind, dass es sich angefühlt hat, als würden wir fliegen?

Ich bin noch nie in meinem Leben so schnell gerannt, und es hat sich noch nie so gut angefühlt.

Es war Sommer und du hattest mich zu einem Picknick ausgeführt, und der Himmel war blau und die Sonne schien und es roch nach Wildblumen und Wald und Honig. Ich hatte diese duftende Luft tief in meinen Lungen, die Arme ausgebreitet, und du griffst nach meiner Hand, während wir rannten.

Einfach so.

Nicht vor etwas weg. Auf etwas hin – auf die Freiheit, die ich in dem Sommerwind in meinen Haaren und in dem Kitzeln der Grashalme an meinen nackten Beinen spürte. Und wir rannten auf das Glück zu. Das habe ich geschmeckt, als ich die Luft eingesogen habe. Das habe ich auch gespürt, als wir unser Gleichgewicht verloren und den Rest des Abhangs lachen über unsere Tollpatschigkeit hinunterkugelten. Aber vor allem, als du mich, als wir endlich gestoppt hatten, näher an dich heranzogst und mit einem Lächeln auf den Lippen geküsst hast. Da hast du danach geschmeckt: nach Glück.

Nach Sommerwind und Blumen und Honig und Freiheit und uns.

Und ja, ja, wir waren glücklich. Weil wir zusammen geflogen, und zusammen gefallen waren. Einen Abhang, aber auch einen Abhang unseres Lebens.

Ich erinnere mich daran, Jonathan.

Aber du nicht, und das weiß ich nur zu gut. Denn dazu bist du ja gar nicht in der Lage, und das hat mir auf der Autobahnbrücke so wehgetan.

Da habe ich mir gewünscht, dass dieser Schmerz verschwindet. Dass ich ihn fallen lassen kann, auf die Autos, in die Schatten.

Aber Jayden hat meine Hand gehalten, und da konnte ich nicht. Ich hatte ihn schon in der Hand, den Schmerz, in meiner geballten Faust, und er hat gepocht und meine Haut aufgeschlitzt. Aber dann war da Jaydens Wärme und seine Finger und er hat den geballten Schmerz gestreichelt, bis er zurück in meine Adern floss, und ich habe geblutet auf die Autos und die verwischten Lichter und die Dunkelheit.

Tränen habe ich geblutet, auf Jayden.

Weil er mir gezeigt hat, dass ich den Schmerz nicht einfach fortwerfen kann. Dass er ein Teil von mir ist. Und er hat mir geholfen, damit er sich für ein paar Augenblicke nicht mehr so schlimm angefühlt hat.

Aber, Jonathan, er ist immer noch da.

Der Schmerz.

Er fließt durch meine Adern, dunkel, voller Schatten, und verwischt mein Licht.

Und ich weiß nicht, was ich tun soll, weil ich weiß, dass du, als du deine ebenso schwarzen Flügel ausgebreitet und fortgeflogen bist, vergessen hast, dass wir unsere Flügel zusammengekettet hatten mit dem Klebstoff gebrochener Herzen.

Und da hast du sie mir ausgerissen.

Was mache ich jetzt also, wenn ich falle, Jonathan?

Denn Jayden will mich vielleicht fangen – ich weiß, dass er es versuchen wird – aber er fällt doch auch.

Wenn Anna fliegt.


Weil ich euch nicht wieder warten lassen wollte und der Brief gerade fertig geworden ist. ^^ 

xx Carly, wir sehen uns am Sonntag mit dem nächsten Kapitel :)

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now