4 - Evelyn: Glastraumscherben

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„Evelyn?"

Ich fahre herum, in dem Augenblick, in dem ich die Stimme erkenne.

Ihre Haut ist ein wenig blasser als sonst, ihre Augen leuchten nicht ganz so strahlend, und die Ringe darunter sind eine Nuance dunkler.

Cassie.

„Was tust du hier?", zische ich, sobald ich sie erkenne. Ich bin immer noch wütend auf sie, so unsagbar wütend; eine Wut, die von meiner Verletzlichkeit und meiner Verzweiflung rührt, auch wenn ich das natürlich niemals zugeben würde.

„Äh... ich", stammelt Cassie, als würde sie nach Worten suchen.

„Cassandra, was zur Hölle tust du hier?", frage ich noch einmal, eine Spur schärfer jetzt, und meine Stimme ist harsch und ungehalten, aber es tut mir nicht leid.

„Ich...", sie räuspert sich, blinzelt, blickt gen Boden. „Jayden... er hat mir gesagt, wo ihr heute seid."

Als sie bemerkt, wie ungläubig ich sie ansehe, fährt sie mit zitternder Stimme fort. „Ich hab' ihn zufällig – zufällig, ich schwöre – auf der Straße getroffen. Er hat sich wohl... Sorgen gemacht. Weil... weil wir uns gestritten haben."

Ich muss schlucken.

„Er wollte wissen... ob alles okay zwischen uns ist. Ich habe nichts gesagt, wirklich nicht, er weiß gar nichts. Aber als ich geschwiegen habe, hat er das als Nein genommen... und dann hat er mir gesagt, dass ihr heute hierherkommen wollt." Sie macht eine Pause, guckt kurz hoch zu mir. „Er scheint ein gutes Herz zu haben."

Für eine Sekunde bin ich sauer und ich weiß nicht einmal mehr, auf wen.

Dann seufze ich resigniert, drehe mich um und gehe zur Bar. Jetzt lässt es sich schließlich eh nicht mehr ändern – und außerdem hat sie recht: Jayden hat ein gutes Herz. Das kann ich spüren.

„Evie?"

Ich drehe mich noch einmal um.

„Ähm... meine Mutter holt mich nachher ab. Wir können dich mitnehmen, dann musst du nicht den Bus nehmen", flüstert Cassie.

Ich sehe sie an, lange. In ihren Augen steht etwas, das ich nicht erkennen kann. Ich nicke trotzdem.


In der Bar ist es dunkel, nur ab und zu verbreiten kleine, fackelähnliche Lampen an den Steinwänden gelbes Licht. Die Nischen mit den Kissen darin, welche sich in unregelmäßigen Abständen im Raum befinden, sehen irgendwie gemütlich aus. Ich werfe einen Blick zur Bühne. Vor einem niedrigen Tisch mit drei Stühlen ist nur eine große Holzfläche, am vorderen Rand steht ein Mikrofon.
Ich erinnere mich an einige Poetry-Slams, die ich mir angeschaut habe, als ich noch jünger war und nichts wusste von dieser Welt. Als ich Liedern wie What a wonderful world noch jede einzelne Zeile abgekauft habe.
„Komm, Evelyn", sagt Cassie und streicht sich eine Locke hinters Ohr. Ihre Augen glänzen und ich erkenne diesen Ausdruck sofort. Das letzte Mal, als sie ihn aufgesetzt hat, versuchte sie anschließend über vier Wochen hinweg, mich mit einem Typen zu verkuppeln, den ich nicht wirklich ausstehen konnte. Was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte.
„Oh nein, Cassie" sage ich warnend, weil ich genau weiß, was jetzt passieren wird. Denn inzwischen ist ein schätzungsweise fünfundzwanzig Jahre alter Mann mit sympathischem Dreitagebart und schwarzen Wuschellocken auf die Bühne gestiegen. Er hält ein Mikrofon in der Hand und klopft dagegen.

Jayden dreht sein Gesicht zu mir und hebt eine Augenbraue, als würde er fragen, was zur Hölle ich damit sagen will, ich schüttele nur den Kopf als Antwort, nicht wichtig.
Von Cassie bekomme ich für diesen Kommentar allerdings nur einen beifälligen, verächtlichen Blick, in dem eine leichte Note von Belustigung liegt. Es lässt die Farbe voller wirken, wenn sie so verschmitzt guckt. Früher habe ich es lustig gefunden, inzwischen, da ich weiß, was dieser Ausdruck bedeutet, hüte ich mich davor, ihn allzu oft zu Gesicht zu bekommen.
„Nein", protestiere ich noch einmal, aber erheblich leiser. Cassandra ist sehr stur. Sie wird nicht so leicht locker lassen. Leider. Sieht so aus, als würde ich in der nächsten Stunde einmal auf dieser Bühne gestanden und ein Stück meiner Innersten Preis gegeben haben. Ein resigniertes Seufzen entfährt meinen Lippen, und in mir fängt die Wut an, zu brodeln. Wie kann sie es sich erlauben, so etwas zu tun, nach dem, was wir uns letztes Wochenende auf dieser Party gesagt nein, geschrien, haben? Wie kann sie es überhaupt wagen, hier aufzutauchen?
In diesem Moment fängt der Moderator von eben an zu sprechen.
„Hallo, ich heiße euch herzlich Willkommen zu einem weiteren Poetry-Slam in der Bar L.A. Ich freue mich, dass wir heute auch so viele junge Gäste haben und bin schon sehr gespannt auf die Werke, die wir heute sehen, hören und hoffentlich auch fühlen werden. Zuerst stelle ich euch die Juroren vor: ..." Während Namen, die ich noch nie zuvor gehört habe, aus den Lautsprechern dröhnen und Beifall ertönt, schweifen meine Gedanken ab. Zu Jonathan. Und zur Verzweiflung, die ich in mir spüre, ein ständiger Begleiter, beinahe so anhänglich wie mein Schatten.
„Evelyn Summers!"
Ich horche auf, als ich meinen Namen höre. Der - ganz nebenbei - total unglücklich ist. Es würde wirklich mehr passen, wenn ich Winter heißen würden. Schließlich ist in meinem verkorksten Leben alles kalt. Grau in unendlichen Varianten, eine trauriger als die andere. Trostlos.
Erst als Jayden mich vorsichtig anstupst und meinen Namen sagt, wird mir klar, dass ich das Opferlamm bin. Ich muss ein Gedicht vortragen. Unangemeldet. Aus heiterem Himmel. Jetzt sofort.
Ich wette, dass Cassie dem Typen irgendwas gegeben hat, damit dies passiert. Denn ein Zufall ist es sicher nicht. Ich weiß tief in mir drin, dass sie nur mein Bestes will, aber so macht sie nur immer und immer wieder alles schlimmer.
„Das wirst du bereuen", flüstere ich, während ich mich nach vorne bewege. Ich weiß jetzt schon, welches Gedicht ich vortragen werde.
Meine Absätze bringen das Holz der Bühne zum Knarzen. Ich beuge mich nach vorne.
„Hallo", spreche ich. Meine Stimme klingt abweisend. „Mein Werk heißt Grau-Schwarz-Weiß." Mehr sage ich nicht. Mit seltsam ruhigen Händen umfasse ich das Mikrofon. Dann schließe ich die Augen.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now