12 - Anna: Zitronengefühle

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„Ist Evelyn schon weg?", fragt Jayden, als er von der Toilette zurückkommt und Eve nicht mehr neben mir steht.

Ich nicke. „Ja. Sie ist direkt nach ihrem Vortrag gegangen, hat mir nur noch kurz tschüss gesagt."

Ich sehe ihn seufzen.

„Hätte sie nicht noch kurz auf mich warten können?", murmelt er und in seiner Stimme liegt ein Ton, den ich nicht genau einordnen kann.

„Hey", sage ich und trete näher an ihn heran, zwinge ihn, mich anzusehen. „Sei nicht sauer auf sie. Jonathan geht es besser. Kannst du es ihr da verübeln, dass sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus möchte und darüber eben alles vergisst?"

Jayden atmet aus. „Ja, ich weiß, und klar, das ist wahnsinnig toll und alles", antwortet er schließlich. „Ich wünschte nur, sie könnte noch bleiben, um mich anzuhören – ich wünschte nur, sie hätte sich wenigstens noch von mir verabschiedet."

Ich nicke verständnisvoll. „Schreib ihr doch morgen einfach. Dann können wir wieder etwas zusammen machen. Ich meine... wenn er aufwacht, dann muss sie ja nicht sofort da sein, oder?"

Jayden seufzt nur noch einmal. „Ich weiß nicht, wenn meine Freundin nach einem halben Jahr im Koma wieder aufwachen würde, wäre ich schon ganz gerne bei ihr", sagt er.

Meine Augen weiten sich vor Überraschung.

„Er ist ihr Freund?"

Jayden sieht mich an. „Das weißt du nicht?", fragt er.

Ich schüttle den Kopf. „Mir hat sie nur schnell eben erzählt, dass er jemand Wichtiges für sie ist und sie schnell zu ihm hinmuss, weil er im Koma lag und jetzt hat sich sein Zustand verbessert... aber sie hat dir von ihm erzählt, oder?", frage ich und sehe ihn an. In seinen Augen steht ein Gefühl, von dem ich nicht weiß, was es ist oder was es bedeutet.

Er nickt, langsam, als wäre er sich nicht sicher. Vielleicht zögert er, weil er nicht weiß, ob er es mir erzählen darf.

„Sie wird es dir ohnehin erzählen", meint er dann, und wir wissen, dass es stimmt. Wir sind uns alle in den letzten Tagen näher gekommen. Es ist ein wahnsinnig gutes Gefühl, Freunde zu haben – wie bereits gesagt, ich habe mich seit langem nicht mehr so lebendig gefühlt wie im Moment, mit Jayden, Evelyn und Cassandra.

„Kannst du dich noch ein paar Minuten gedulden? Ich bin ja eh gleich dran und dann können wir anschließend nach draußen gehen", fährt Jayden mit einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr fort.

Ich nicke. „Ja klar", antworte ich und dann grinse ich ihn an. „Was für ein Gedicht willst du eigentlich vortragen?"

Jayden grinst jetzt auch und hebt dann nur die Augenbrauen. „Sorry, aber da musst du dich wohl oder übel überraschen lassen."

Als er schließlich aufgerufen wird und sich nach einem letzten, wackelnden Lächeln in meine Richtung der Bühne zuwendet, sehe ich ihm an, dass er nervös ist.

Und das, obwohl er nicht wirklich selten zu Poetry-Slams geht.

Er ist inzwischen auf der Bühne und hat das Mikrofon in die Hand genommen. Ich sehe, wie er schluckt, dann wirft er dem Publikum ein nervöses Grinsen zu.

Als seinen Blick meinen streift, schenke ich ihm ein aufmunterndes Lächeln und halte meinen Daumen hoch. Jetzt wirkt sein Grinsen nicht mehr ganz so gezwungen.

„Hey", sagt er und seine Stimme klingt ein wenig anders als normal, jetzt, da sie über die Lautsprecher durch den gesamten Raum verteilt wird. „Das Gedicht, das ich vortrage, ist eher ein Gedankenspiel. Ich hoffe, es gefällt euch – es heißt Menschenträume."

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now