5 - Evelyn: Kirschblütenhimmel

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„Ich möchte dir jemanden vorstellen", sagt Jayden.

Ich drehe mich überrascht zu ihm um, sehe ihn abwartend an. Er erwidert meinen Blick nicht, sondern sieht irgendwo in die verregneten Straßen.

„Aber erst morgen", fährt er fort und bleibt stehen. Ich bemerke mit einem Stirnrunzeln, dass er mich nach Hause gebracht hat.

„Woher wusstest du, wo ich wohne?", frage ich.

Er sieht mich kurz an, ein Grinsen huscht über seine Lippen. „Cassie, wer sonst", gibt er zurück, und bevor ich etwas erwidern kann, drückt er mich zum Abschied fest an sich und ich spüre, wie er meine Finger auseinander biegt und mir einen kleinen, gefalteten Zettel in die Hand gibt.

„Ich hole dich um elf ab", sagt er noch, und dann schenkt er mir noch ein schnelles Lächeln, bevor er sich umdreht und die Straße hinunter verschwindet.

Ich lächele ihm nach.

„Bis morgen", flüstere ich noch, obwohl er mich nicht mehr hört.


Ich denke an Jonathan, während ich mich umziehe und meine Haare zu einem Pferdeschwanz binde. Schließlich schlüpfe ich ins Bett und kuschle mich in die Decke. Einen winzigen Moment lang bilde ich mir ein, sein Eau de Cologne immer noch in meinen Kissen riechen zu können, auch wenn das natürlich Unsinn ist.

Heute tut es nicht ganz so weh. Nicht mehr. Vielleicht, weil ich heute schon genug Schmerz hatte – gibt es eine Grenze? Wie viel Schmerz man empfinden kann, meine ich? Am Tag? Im Leben?

Ich schalte mein Handy ein und tippe eine Nachricht an die Nummer, die auf dem Zettel steht.

Hey, Jayden, schreibe ich.

Er antwortet fast sofort. Hallo Evelyn! Wie geht es dir?

Ich lächle leicht. Okay. Dir?

Wieder dauert es nur ein paar Sekunden, bis mein Bildschirm eine neue Nachricht anzeigt. Mir geht es gut. Vergiss nicht: morgen um elf bin ich da. ;)

Ich grinse. Na dann, gute Nacht, Jayden, tippe ich.

Er antwortet sogleich. Gute Nacht. :)

Ich schlafe ein, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten musste ich mich nicht in den Schlaf weinen.


Pünktlich um elf klingelt es an der Haustür. Gut, dass heute Sonntag ist, aber ich hoffe trotzdem, nicht allzu spät nach Hause zu kommen. Ich brauche ein wenig Schlaf, bevor ich morgen wieder in die Schule muss.

Ich schnappe mir meine Tasche, schlüpfe in meine Schuhe und öffne Jayden die Tür.

„Hey", begrüßt er mich mit einem Lächeln und ich komme zu ihm nach draußen, umarme ihn kurz. „Hey", erwidere ich, „wo gehen wir hin?"

Ich glaube, Jaydens Grinsen für einen Moment schwanken zu sehen, aber dann ist der Moment vorbei und er zuckt nur schelmisch mit den Schultern. „Wirst du schon sehen", antwortet er.


Wir treffen sie auf einer Wiese, auf der Kirschbäume stehen, obwohl zu dieser Jahreszeit natürlich nichts mehr blüht.

Jaydens Schwester sieht krank aus.

Sie hat kurze, stumpfe braune Haare – als hätte sie vor kurzem überhaupt keine mehr gehabt -, ihre Haut hat einen ungesunden, beinahe gräulichen Ton und man sieht ihre Adern; ein blaues Netz, das sich klar abzeichnet und das Blut zeigt, das durch ihren Körper fließt.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt