14 - Evelyn: Verzweiflungsträume

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Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.

Das hat Rilke geschrieben.

Ich lege das Buch beiseite und muss lachen. „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält?", sage ich laut und wütend und suche irgendein Anzeichen von Wahrheit in diesen Worten.

Ich kann es nicht finden.

Und ich weiß ohnehin, dass es nicht stimmt.

Denn niemand hat das Fallen in den Händen. Und schon gar nicht sanft.

Jonathan ist einfach gestorben. Einfach so. Von einer Sekunde auf die andere. Hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Seine Lunge aufgehört zu atmen. Sein Körper aufgehört zu leben. Er aufgehört zu sein.

Und daran ist nichts Sanftes.

Es ist nicht sanft, dass sein Körper bald unter der Erde sein wird und Spinnen auf ihm herumkrabbeln werden, während er verwest. Es ist nicht sanft, dass alles, was er war, weg ist – ganz plötzlich und heftig.

Es ist nicht sanft, wie er aus meinem Leben gerissen wurde.

Und der Schmerz und die Verzweiflung und die Wut. Die sind auch nicht sanft. Nein. Die sind stark und spitz und wie Flammen, die alles verschlingen, und zugleich wie tausend Dolche, die sich in mich stoßen, und ich weiß nicht, was genau das ist, was so wehtut in mir, ich weiß nicht, was ich tun kann, weiß nicht, wie ich das aushalten soll – denn ich zerreiße, und das ist überhaupt gar nicht sanft.

Ich falle.

Also nehme ich das Buch und schmeiße es ganz weit weg, und es knallt gegen die Wand, landet auf dem Boden, und dann halte ich auf einmal das Foto von meinem Nachttisch in der Hand und starre es an, und dann zersplittert es, als es auf dem Parkett meines Zimmers landet. Überall liegen Scherben.

Und plötzlich knie ich in all dem zerbrochenen Glas und schneide mir den Finger an einem Splitter, als ich vorsichtig das Foto aus dem Rahmen hole.

Ich kann kaum etwas sehen vor all den Tränen.

Vielleicht, weil ich Jonathan wirklich nicht mehr sehen kann.


Es klingelt um halb sechs, und draußen ist es dunkel, aber ich renne ihr trotzdem sofort in die Arme.

Ich kann nichts sagen, und sie schweigt auch, und alles, was zählt, ist, dass sie mich in ihren Armen hält.

Wir stehen lange so da, und irgendwann holt uns meine Mutter nach drinnen, und ich halte Cassies Hand ganz fest, weil ich Angst habe, sie loszulassen, und Mom schaut mich an, sieht meinen Zustand, und dann sehe ich ihre Unterlippe zittern.

Sie dreht sich um und steigt die Treppen nach oben, bevor ich mehr erkennen kann, aber ich weiß ohnehin um die Tränen, die in ihren Augen stehen.

Sie hat Jonathan gemocht. Mein Vater auch.

Der ist oben. Er wird jetzt meine Mutter in den Arm nehmen und sie zu trösten versuchen.

So wie sie um halb fünf versucht haben, mich zu trösten, als ich das Telefon gegen die Wand geschmissen und geschrien habe. Ganz laut.

Mom war es, die mein Handy genommen und Cassie angerufen hat.

„Cass", bringe ich heraus und meine Stimme ist heiser und rau und sie bricht schon bei dem einen Wort.

Zartbitterschokolade | BeendetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt