Neunter Brief: Tote Firmamentsvergangenheiten

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Vielleicht

Waren wir

Antimaterie, ein

Fluchtweg aus

Raum und Zeit und jetzt –

Drehe ich mich weiter

{ohne dich}


Jonathan,

wir waren nie zusammen am Meer.

Es ist mir vorhin eingefallen, als ich neben Anna im Sand saß. Es war so ein banaler, bescheuerter Gedanke: Wir waren nie zusammen am Meer.

Ich weiß auch nicht, warum mir das gerade jetzt so wichtig ist. Schließlich waren wir oft genug zusammen an dem See, an dem wir uns zum ersten – aber nicht zum letzten – Mal geküsst haben, und es sollte eigentlich keinen großen Unterschied machen.

Aber vorhin – da habe ich mir gewünscht, dich neben mir zu haben. Wir hätten uns zusammen das Wellenrauschen anhören können, das Möwengekreische, und vielleicht hättest du eine der Muschelschalen genommen und Muster in den nassen Sand gemalt. Du hättest meine Hand genommen.

Und dann musste ich daran denken, dass ich gerne an diesem Strand geblieben wäre, mit Anna, mit Jayden, mit den Möwen und Muscheln und dem Sand und dem Meer und der hässlichen Burg und meiner Cola. Dass ich gerne geblieben wäre, bis die Sonne in den Wellen ertrunken wäre. Bis die Sterne aufgetaucht wären.

Das haben wir getan. Uns die Sterne zusammen angesehen.

Wir lagen auf der Picknickdecke, ich hatte immer noch den Geschmack vom Sekt in meinem Mund, den du mitgebracht hattest, obwohl ich damals noch zu jung war, und ich war so aufgeregt, dass ich mein Herz schlagen hörte.

Wir starrten in den Himmel.

Ich habe versucht, Sternbilder zu erkennen, aber so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte einfach keine Formationen erkennen.

„Das ist so komisch", sagtest du irgendwann.

„Was?", fragte ich.

Du drehtest deinen Kopf zu mir. „Die Sterne." Du sahst mich kurz an, dann blicktest du wieder nach oben.

„Sie wirken zum Greifen nah. Irgendetwas an der Art, wie sie leuchten, ist total romantisch." Du schmunzeltest. „Und dabei sind es eigentlich nur Helium-Wasserstoff-Gasgemische, die sich zu einem Ball geformt haben. Und die meisten davon sind so weit entfernt, dass es sie wahrscheinlich schon längst nicht mehr gibt. Wir schauen in eine tote Vergangenheit, Eve. Und trotzdem... sie sind wunderschön."

Ich musste lächeln. „Ja, sind sie."

Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Für mich gab es an dieser Stelle nichts mehr zu sagen, und anscheinend galt für dich dasselbe, denn wir starrten wieder zum Firmament, zu den leuchtenden, toten Gasbällen, die so willkürlich verteilt waren.

Du nahmst meine Hand, und ich verschränkte vorsichtig meine Finger mit deinen.

Und unter dem Sternenhimmel presstest du deine Lippen auf meine, als hättest du Angst, ich wäre auch so nah, wie die Sterne scheinen, und doch so unerreichbar.

Also küsstest du mich, und legtest deine Hand an meine Hüfte, und du warst so nah, dass ich deine Nähe spüren konnte, deine Hitze – so strahlend, wie ein Stern niemals sein könnte.

Du schmecktest nach Sekt und Sandwiches und Salzstangen.

Als wir aufhörten, uns zu küssen, waren deine Lippen geschwollen. Du lächeltest und legtest deine Stirn an meine.

„Noch so ein Klischee", sagtest du und ich konnte das Grinsen in deiner Stimme hören. „Romantische Dates unter den Sternen."

Ich lachte leise und lehnte mich näher an dich.

„Ich korrigiere: romantische Dates unter wahrscheinlich toten Helium-Wasserstoff-Gasbällen."

Damals waren wir keine Sterne, Jonathan.

Wir waren Planeten. Wir haben uns angezogen und unsere Laufbahnen sind eine Weile nebeneinander hergelaufen.

Aber jetzt?

Jetzt habe ich wahnsinnige Angst, dass wir uns auf unseren Kreisen wieder voneinander wegdrehen werden.

Ich habe Angst, dass wir zu Sternen werden: erloschene Bedeutungen, Bilder einer toten Vergangenheit, ein schwaches Echo des Lichts, von dem, was mal in unseren Herzen geleuchtet hat.

Vielleicht werden wir auch kollidieren, eine wunderschöne Supernova, und dann werden wir verschwinden in der Antimaterie eines schwarzen Lochs.

Vielleicht sind die ja wirklich Wurmlöcher und wir landen irgendwo anders, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Wenn wir viel Glück haben, vielleicht sogar mal am richtigen, zur richtigen Zeit.

Denn ich will dich nicht verpassen.

Ich muss dich schließlich noch fragen, was für ein Planet du bist. Gas? Gestein? Oder ein Feuerball wie die Sonne? Es ist mir eigentlich egal.

Denn ich liebe dich, und solange ich das tue, werde ich nicht erlöschen. Wirst du nicht erlöschen.

Werden wir es nicht.

Komm zurück, Jonathan. Ich glaube, im Moment liegst du im Schatten, und ich kann nur noch die eine Hälfte von dir sehen in dem Licht.

Aber ich brauche alles von dir, jedes einzelne Makel, jeden Krater und Kometeneinschlag und jede Narbe. Du brauchst kein Mond sein, denn vor mir musst du dich nicht verstecken.

Also bitte, bitte, bitte.

Komm zurück.

Zartbitterschokolade | BeendetWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu