Vierzehnter Brief: Es vergeht kein Moment

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Wenn ich deinen Namen flüstere

Antwortest du?

{Nicht mehr}


Du bist tot.

Tot. Was soll das heißen, tot?

Eine Silbe. Drei Buchstaben. T-O-T.

Als ich klein war, habe ich das Wort mit d statt t geschrieben, weil ich es nicht besser wusste.

Es klingt – wie klingt tot?

Es klingt überhaupt nicht. Es klingt schweigend. Still.

In all den Gedichten, in denen ich ahnungslos davon geschrieben habe – da klang tot so dramatisch, so theatralisch, poetisch, perfekt.

Aber tot klingt nur tot.

Im Duden stehen für deine Bedeutung von tot drei verschiedene Erklärungen, die alle irgendwie zutreffen: In einem Zustand, in dem die Lebensfunktionen erloschen sind. Als Mensch, Lebewesen nicht mehr existierend. Abgestorben.

Gestorben.

Klingt viel schöner als tot. Eleganter. Euphemistisch.

Weil tot ja so tot klingt.

So nach – Tod. Mit d. Und groß. Weil wir vielleicht den Tod groß schreiben sollten im Leben.

Denn – Jonathan. Eine Silbe, drei Buchstaben. Das ist so wenig.

Wie kann es also sein, dass deine Bedeutung von tot mich zerreißt?

Weiß du, was es bedeutet?

Es bedeutet, dass du fort bist. Dass dein Körper verwest und zerfällt. Dass du ein Skelett sein wirst. Dass Spinnennetze deine Augenhöhlen bedecken werden und Maden durch deinen Gehörgang kriechen werden, nachdem sie dir das Fleisch von den Knochen fressen.

Dass ich dich nie wieder sehen werde. Nie wieder riechen. Deine Stimme nie wieder hören werde.

Dich nie wieder fühlen werde.

Aber weißt du, was ich im Austausch bekomme? Was ich fühle?

Ich fühle deine Bedeutung von tot.

Und die fühlt sich schreiend und scharf und spitz an und sie erstickt mich an der Luft, die du nicht mehr atmest, und ertränkt mich in den Tränen, die du nicht weinst, aber dafür ich, und sie verbrennt mich in den Flammen der Liebe, die du nicht mehr erwiderst.

WEIL DU TOT BIST.

Und das ist kein guter Tausch, Jonathan!

Wenn jemanden zu verlieren, heißt, ihn zu spüren dagegen einzutauschen, seine Bedeutung von tot zu spüren – dann will ich nicht will ich nicht will ich nicht spüren.

Nicht jetzt. Nicht morgen. Nicht in einem Jahr. Nie wieder.

Ich will das nicht fühlen.

Und "das" ist so ein kleines Wort, für das, was ich fühle, und ich will es gegen die Wand schmeißen und zertrümmern damit es in die kleine Stücke zerspringt, in die ich zersprungen sein muss – wie könnte ich sonst so viel auf einmal fühlen?

Aber weißt du, was das schlimmste ist?

Dass ich weiß, dass du die Person bist, die mich wieder zusammenfügen könnte. Mit einem Augenaufschlag. Einem Blinzeln nur.

Und dass das nicht geht.

Weil die Person, die den Kleber hat, um meine Scherben zusammenzukleben, mich nicht zusammenkleben kann.

Weil sie fort ist, tot, dem Leben entrissen.

Also wie soll ich jetzt jemals wieder ganz werden?

Im Moment fühlt es sich an, als würde ich nie wieder ganz werden, als würde all das mir das Herz zerreißen – und mein Kopf explodiert – ich weiß nicht, was ich tun soll.

Und, Jonathan, ich würde dich so gerne fragen, weil du immer Ratschläge für mich hattest, weil du mir immer helfen konntest – doch ich kann nicht.

Ich kann dich nie wieder etwas fragen.

Nie wieder.

Dieses Nie wieder macht alles tausend Mal schlimmer.

Weil es so vieles gibt, was ich nie wieder mit dir tun werde, und weil ich nichts mehr will, als all diese Dinge zu machen. Ich will mit dir reden. Ich will mit dir Gedichte lesen. Ich will deine Stimme hören. Ich will mich an dich kuscheln, während wir Disney-Filme gucken. Ich will verbrannte Pfannkuchen mit dir essen, wenn du wieder zu viel Zucker darauf gestreut hast. Ich will an den See gehen und unter der Plattform hindurchtauchen, Hand in Hand, damit wir uns nicht verlieren.

Ich schätze, das haben wir wohl.

Oder zumindest ich – ich habe dich verloren.

Denn ich weiß nicht, ob die Bedeutung von tot eine Existenz des Du, das etwas verlieren kann, miteinschließt.

Wohl eher nicht.

Denn würde es dann so wehtun?

Würde es so wehtun, dass ich nie mehr mit dir Händchen halten kann? Dich nie wieder umarmen kann? Dich nie wieder küssen kann?

Wenn ich deine Augen doch nur noch einmal sehen könnte.

Denn ich vergesse schon, wie sie aussahen.

Und ich will sie nicht vergessen.

Nicht das Zartbitterschokoladenbraun, nicht die Marzipanrosenküsse, nicht die Firmamentsvergangenheiten, unter denen wir lagen und philosophierten.

Nichts von dir will ich vergessen.

Denn immerhin zeigt mir der Schmerz, dass etwas da ist, das wehtun kann.

Etwas von dir.

Und wenn er vergeht – was ist dann übrig von dir?

Von mir?

Von uns?

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now