6 - Anna: Leinwandherzen

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Als Jayden am nächsten Tag wieder Evelyn mitbringt, bin ich nicht im Geringsten überrascht. Ich sehe, dass er sie gerne hat. Ich kann es in seinen Augen sehen, sie leuchten ein wenig mehr als sonst, wenn er sie ansieht.

Evelyns Augen haben dunkle Ränder und sie hat sich nicht geschminkt. Es wirkt ein wenig, als hätte sie lange wach gelegen, vielleicht sogar geweint.

„Hey, kleine Schwester", begrüßt Jayden mich lächelnd. Er nimmt mich in den Arm. Er wirkt irgendwie weniger schwermütig als gestern noch.

Wenn das Evelyns Verdienst ist, dann freue ich mich wahnsinnig für ihn. Er hätte es so verdient, er hätte es so unglaublich verdient.

„Hallo Anna", sagt Evelyn, während sie mich umarmt. Ich merke an der Art, wie sie mich hält – ganz sanft und vorsichtig, als wäre ich Glas, das jeden Moment zerbrechen könnte – , dass sie eine Ahnung davon hat, was mir fehlt.

Ich spüre auch, dass sie weiß, wie sich Jayden fühlt. Es ist nicht unbedingt Mitleid, das durch den Druck ihrer Hände auf meinem Rücken zu mir übertragen wird. Es ist mehr die stille Anteilnahme. Worte, die sie nicht aussprechen muss: Es ist unfair. Du solltest nicht dieses Schicksal haben.

Was sie wohl erlebt hat? Was ist verantwortlich für ihren Schmerz, den Schmerz, den ich ihm Wasserfarbblau ihrer Augen sehe?

Es ist Schmerz wie Jaydens. Aber sie scheinen anders damit umzugehen.

Er versucht, zu leben. Mit mir.

Und Evelyn? Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas an ihr ist leer, so schrecklich leer wie meine eigenen Augen, in denen der Tod steht, wenn ich mein Spiegelbild ansehe. Ihr fehlt auch etwas. Als wäre ein Teil von ihr aus ihrer Seele herausgerissen worden.

„Und was machen wir heute?", fragt Jayden mich.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Idee ihm und Evelyn gefallen wird, aber es ist mir egal. Ich muss es tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit, aber ich muss das tun. Wenigstens dieses eine Mal.

„Wir gehen einkaufen. Pinsel. Und Farben. Und eine Leinwand."

Jayden und Evelyn heben fast synchron die Augenbrauen.

„Äh, Anna... du kannst nicht malen", weist Jayden mich vorsichtig zurecht. Aber ich lächle nur. „Ich weiß", antworte ich.

Wir kaufen nicht nur eine Leinwand, sondern gleich fünf. So viele, dass wir sie um uns herum auf der Wiese aufstellen.

„Und jetzt?" Inzwischen steht Neugier in Jaydens Stimme.

Ich bitte die beiden, die Augen zu schließen. Sie tun, was ich sage, und auf ihren beiden Gesichtern stehen Fragezeichen.

Ich nehme einen großen Pinsel, tunke ihn in weinrote Farbe und in Wasser.

Dann mache auch ich die Augen zu.

Und dann drehe ich mich im Kreis.

Ich drehe mich einmal im Kreis, zweimal, dreimal, zehnmal. Als ich aufhöre, stolpere ich und farbige Punkte tanzen vor meinem Blickfeld.

Aber es sieht genauso aus, wie ich es wollte.

„Okay, und jetzt ihr", fordere ich und drücke den beiden einen Pinsel in die Hand.

Als sie die Augen öffnen, verstehen sie.

Evelyn tunkt ihren Pinsel ein wenig unentschlossen in einen gelben Farbton, der mich an Löwenzahn erinnert. Jayden sucht sich einen Grünton aus, einen voller Kraft und Lebendigkeit, wie junge Blätter im Frühling, wenn die Sonne scheint.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now