Zehnter Brief: Und die Welt dreht sich

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Ich sehe

Wie die Blätter fallen, den Boden bedecken

Direkt vor meinen Augen

{doch was ich wirklich sehe

Ist der nächste Herbst

Ohne

Dich.}


Ich weiß noch genau, wie du mich das erste Mal zum Essen eingeladen hast.

Es war kein teures Restaurant, für das ich ein Kleid hätte anziehen müssen. Nein.

Es war nicht nur das erste Mal, dass du mich zum Essen einludst, es war auch das erste Mal, das ich bei dir war.

Schon als ich draußen vor der Tür stand, in meinem dicken Wintermantel mit den gepolsterten Stiefeln und der bordeaufarbenen Mütze, roch ich die Pfannkuchen.

Sobald du mir geöffnet hattest, hast du dich bei mir entschuldigt – dafür, dass es nur Pfannkuchen gab und kein besonderes Gericht, für das du fünf Stunden vor dem Ofen hättest stehen müssen.

Aber dass du dir gemerkt hattest, dass ich dir erzählt hatte, wie sehr ich Pfannkuchen liebte, hat mir gereicht.

Du hast mir immer gereicht.

Und an diesem Abend war ich sehr glücklich. Obwohl die Pfannkuchen unten angebrannt waren, der erste in sich zerfallen war und du mir, weil du darauf bestanden hattest, alles auf meinem Teller anzurichten, viel zu viel Zucker draufgestreut hast.

Es war alles egal.

Denn die Art, wie deine Wangen erglühten, wenn du dich zum tausendsten Mal für etwas entschuldigtest, das mir gar nichts ausmachte, erzählte mir alles, was ich wissen wollte.

Und als ich mir allen Ernstes aus Versehen mein Wasserglas über den Pullover gegossen habe, bist du in dein Zimmer gerannt und hast mir einen grauen Hoodie geholt.

Du kannst es dir bestimmt denken, Jonathan.

Ich trage ihn gerade.

Vielleicht hätte ich ihn dir zurückgeben sollen.

Aber dann könnte ich mich jetzt nicht hereinkuscheln und mir vormachen, dass die Wärme, die ich dann spüre, von dir kommt und nicht nur von einem deiner Hoodies.

Jedenfalls haben wir uns nach dem Essen auf das kleine Sofa gesetzt, das Sofa mit den weißen und schwarzen Kissen und dem einen roten in Herzform.

„Was willst du schauen?", hast du mich gefragt und mich angesehen – das Bild, wie du da knietest, den Kopf über die Schulter zu mir gewendet, die Hand am Griff der Schublade mit all den Filmen – es ist glasklar in meinem Kopf.

Wenn du mich doch jetzt, in diesem Augenblick, so anschauen würdest, Johnny.

„Keine Ahnung", sagte ich und zuckte mit den Schultern, und du hast gegrinst. Dann hast du ‚Rapunzel – Neu verföhnt' eingelegt und wir haben den Abend damit verbracht, Disney-Filme zu schauen und uns an unsere Kindheit zu erinnern.

Als Eugene am Ende sterben sollte, vergrub ich meinen Kopf an deiner Schulter, obwohl ich schon wusste, was passieren würde und gar nicht weinen musste, wie es eigentlich bei traurigen Momenten in meiner Natur liegt.

Ich schätze, ich wollte dir einfach nur nah sein.

Und du mir auch, offensichtlich. Denn du hast deinen Arm um mich gelegt und mich enger an dich gezogen, und gelächelt, und ich weiß, dass ich mich selten so willkommen, so zuhause gefühlt habe wie in diesem Moment.

Natürlich war das auch der Abend, an dem du mir die alten Fotoalben gezeigt hast, die im Schrank standen.

Es war nicht unser erstes Date, aber es zeigte mir einen Teil von dir, den du vorher so sorgsam vor mir versteckt hattest.

Und in dem Moment – in dem Moment, in dem du nostalgisch auf das Foto von dir mit deinen Eltern in eurem Garten blicktest und mit leiser Stimme die Worte „meine Eltern haben sich getrennt, als ich zehn war" murmeltest – in dem Moment, in dem du mir offenbartest, dass dein Vater dich allzu oft angeschrien hatte, dass deine Eltern sich zu oft angeschrien hatten, dass die Wände eures Hauses nicht dick genug gewesen waren, nicht dick genug um die Schreie zu ersticken, und nicht dick genug, damit du das Weinen deiner Mutter nicht hörtest, wenn dein Vater mal wieder auf dem Sofa mit den schwarzen und weißen und dem einen roten Kissen schlief, jenem roten Herzkissen, dass er ihr einst geschenkt hatte und „ich liebe dich" dabei gesagt hatte – in dem Moment, in dem du mir erzähltest, dass du deine Schluchzer in deinem Kissen erstickt hattest, einem gelbem Kissen, und dass du es manchmal, wenn die Einsamkeit dich überkommt, immer noch tust –

Ja, in dem Moment wurde mir bewusst, dass wir nichts voreinander verstecken mussten.

Und das habe ich nie.

Aber jetzt?

Jetzt habe ich keine Ahnung, ob du alles mitbekommst, was in meinem Leben geschieht, auch wenn ich mir noch so sehr wünsche, dass du es tust.

Habe ich also Geheimnisse vor dir?

Verstecke ich etwas vor dir?

Oder versteckst du etwas vor mir?

Wenn du schweigst und dich nicht rührst und nur deine langsamen, regelmäßigen Atemzüge mir sagen, dass du nicht fort bist –

Dann weiß ich nämlich nicht, wo genau du bist. Ob du mich siehst.

Und das schlimmste ist, dass ich nicht einmal weiß, ob du mich noch lieben wirst, wenn du wieder aufwachst. Oder ob du dich überhaupt an mich erinnerst.

Ich weiß, dass das passieren kann. Und ich habe Angst.

Jonathan, ich habe Angst, dass ich wieder alleine bin, wieder die Einzige mit Gefühlen, die ihr vielleicht zu viel bedeuten.

Aber ich liebe dich.

Immer noch.

Immer und immer und immer noch.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now