2 - Evelyn: Kunstnebelwahrheiten

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„Evie?"

Cassandra wedelt mit einem kleinen, rechteckigem Blatt Papier vor meinem Gesicht herum. Ihre haselnussbraunen Augen leuchten und ihre Wangen sind gerötet vor Aufregung.

„Was?", frage ich und drehe den Kopf zu meiner Freundin. Die beginnt jetzt, auf und ab zu springen wie eine Gazelle, und ist offensichtlich zu überwältigt von dem kleinen Papier, um zu antworten.

„Meine Güte", stoße ich resigniert hervor und schnappe mir mit einer flinken Handbewegung den Grund für Cassies überschäumende Freude. Es ist eine Einladung. Zur Party eines gewissen Lucas.

Ich schätze mal, das ist dann wohl die Party, von der ich Jayden erzählt habe. Auf der ich ihn treffen werde.

„Das ist morgen!", schreit Cassie aufgeregt, als würde ich das nicht schon längst wissen. Schließlich hat sie mir damit oft genug die Ohren vollgejault. „Er hat uns eingeladen! Evie, er hat uns wirklich eingeladen! Morgen Abend um 20 Uhr! Heilige Scheiße, ist das cool! Stell dir nur mal vor; Jungs, Alkohol, wenn wir abends Wahrheit oder Pflicht spielen und ich Lucas küssen soll..." Ihre Stimme verliert sich, als sie in ihren Tagträumen abtaucht. Sie steht schon seit ungefähr zwei Jahren auf diesen zugegebenermaßen gut aussehenden Schnösel, also, seit sie sich von ihrem Exfreund getrennt hat.

Mit einem Mal habe ich überhaupt keine Lust mehr auf die Party. Aber ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich Jayden sitzen lasse.

Trotzdem. Ich muss das Cass ja nicht jetzt sofort unter die Nase reiben. Ich habe im Moment echt keine Nerven für ihr Rumgehampel und ihre Freude, wenn ich ihr auch noch erkläre, dass ich vorhabe, zu kommen.

Also zucke ich nur die Achseln und rolle genervt mit den Augen. „Ich gehe nicht hin", stelle ich kühl fest und krame meinen Spindschlüssel aus der Tasche.

Schlagartig dreht Cassandra sich wieder zu mir. „Was? Aber du musst da hingehen, das ist der absolute-..."

„Wahnsinn, ich weiß", sage ich kühl und öffne meinen Spind. „Außerdem muss ich gar nichts. Außer Sterben." Cassie runzelt die Stirn. Oh nein. Gleich kommt wieder die übliche Moralpredigt zum Thema Leben und Jonathan und meinen depressiven Zuständen im Moment.

„Und ich habe Schwimmtraining", fahre ich fort, ohne auf den vorwurfsvollen und zugleich besorgten Gesichtsausdruck meiner Klassenkameradin zu achten, in dem Versuch, ein Argument zu finden und mir nicht eine weitere Standpauke zu dem Thema anhören zu müssen.

„Das blöde Schwimmtraining kannst du ja wohl mal ausfallen lassen", sagt Cassie wütend und rammt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Sie weiß, dass ich eigentlich nicht mehr ins Training gehe und ich bin ihr unendlich dankbar dafür, dass sie mich für diesen einzigen Augenblick in Ruhe lässt. Wenn wir uns anlügen, heißt das normalerweise, dass wir wirklich, wirklich nicht über die Dinge reden wollen, über die wir gelogen haben oder die uns bedrücken. Und das ist bei mir definitiv der Fall.

Ich ziehe überrascht die Luft ein, erwidere aber nur: „Nein, kann ich nicht."

„Du gehst hin, Evelyn. Punkt." Cassies Stimme klingt entschieden. Es ist also an der Zeit, meine kleine Lüge aufzuklären, bevor sie wirklich ausrastet.

Ich seufze.

„Ist ja gut. Ich wollte sowieso kommen. Ich hatte nur keinen Bock, deine Fröhlichkeit zu einem noch höheren Level an Unerträglichkeit zu treiben", sage ich und schenke meiner besten Freundin ein halb echtes, halb gefälschtes entschuldigendes Grinsen.

Cass fällt nicht darauf rein.

„Evie, was ist jetzt schon wieder los mit dir?", fragt sie, und obwohl ich merke, dass sie sich um einen gelassenen Tonfall bemüht, höre ich die Ernsthaftigkeit, aber genauso auch die Resignation in ihrer Stimme.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now