9 - Evelyn: Regentränen

108 14 6
                                    


Ich grabe meine nackten Zehen in die Erde, ein Grashalm kitzelt meine Fußsohlen. Genussvoll atme ich tief ein, schließe die Augen.

Es riecht nach dem letzten verblassenden Echo von Regen, nach süßer Fäulnis der Blätter, die bereits von den Bäumen gefallen sind, nach dem Herbst, der den Wald gefangen hält.

Ich werde nicht mehr lange barfuß herumlaufen können.

Schon bald wird die Erde in eine Decke aus braunen Blättern gehüllt sein, und die Kälte wird nicht mehr durch die dünne Jeansjacke erträglich sein. Unwillkürlich wickle ich den Stoff fester um mich.

Ich habe die Ruhe des Waldes gebraucht, die Stille. Auch wenn meine Gedanken normalerweise immer nur lauter werden, schafft es das Zwitschern der Vögel und das leise Rascheln der Blätter im Wind irgendwie, mein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen.

In letzter Zeit ist das Leben mit einem Mal wieder so voll.

Seltsam, dass ich, jetzt, wo ich wieder zu leben scheine, wieder Ruhe suche.

Vielleicht ist es die Last; das Wissen um Annas herannahenden Tod – sie wird nicht mehr lange bleiben.

Und trotzdem.

Trotzdem verbringe ich Zeit mit ihr, kostbare Zeit, von der sie viel zu wenig hat.

Ich weiß, dass ihr Verlust inzwischen nicht mehr nur Jayden schmerzen wird, sondern auch mich.

Komisch:

Es ist ein Schmerz, den ich entgegenzunehmen bereit bin. Zum ersten Mal nach ihm.

Aber das bedeutet nicht, dass ich mich nicht fürchte, den Schmerz.

Ich fürchte ihn vielleicht sogar mehr als sonst, weil er mich jetzt noch mehr zerreißen kann.

Aber egal. Egal, wie heftig das alles über mich und Jayden hereinbrechen wird, wir werden bei ihr bleiben.

Bei Anna.

Weil sie all den Schmerz wert ist.


„Hier bist du."

Ich fahre herum.

Ihre Haare wehen im Wind und sie trägt ein sanftes, irgendwie ängstliches Lächeln auf den Lippen; als wäre sie sich nicht sicher, ob es in Ordnung ist, wenn sie lächelt.

„Was machst du hier, Cassandra?", frage ich sie leise.

Es ist ein komisches Gefühl, das mich überkommt. Eines, das mich nostalgisch werden lässt, mich an das Band erinnert, das mich und sie mal verbunden hat. Ein bittersüßer Schmerz, der mich in Frage stellen lässt, ob jenes Band gerissen ist – oder ob es noch da ist. Ob wir es vielleicht, mit viel Mühe, mit Mut, irgendwie vielleicht wieder kleben können.

Sie senkt den Kopf und macht gleichzeitig ein paar Schritte in meine Richtung.

„Ich...", sie bricht ab, kommt noch näher, setzt sich schließlich neben mich auf den Waldboden, einen halben Meter zwischen uns.

Ich bin versucht, zu fragen, ob Jayden ihr wieder gesagt hat, wo ich bin, aber da er gar nichts davon weiß, dass ich hier bin – warum auch – wäre das sinnlos.

„Können wir reden?", fragt sie schließlich. Ihre Stimme zittert, sie zieht die Beine an und schlingt ihre Arme darum.

Ich atme tief durch.

Ich will nicht, dass es so ist zwischen uns – dieser halbe Meter. Dieses vielleicht nicht vollständig zerrissene Band.

Also räuspere ich mich, und nicke.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now