Dritter Brief: Die Welt Zum Verstummen Bringen

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Deine

so falschen, so richtigen, so wahren

Worte

die Flügel haben.

Lieber Jonathan,

Weißt du noch, wie wir zum allerersten Mal miteinander gesprochen haben?

Es war eine Woche nach der Sache mit dem Gedicht, und der Tag war beinahe wolkenlos –fast schon zu warm für Ende Oktober. Ich trug meine dünne Jeansjacke – die, die du an mir magst – und ich saß auf der Tischtennisplatte, auf der du auch gesessen hast.
„Hey", sagtest du und setztest dich neben mich, ein halber Meter zwischen uns. Ich hatte dich vorher nicht gesehen und erschrak deswegen, was dich zum Schmunzeln brachte.
„Hallo", brachte ich schließlich hervor – nachdem ich fertig war mit Husten, weil ich mich an meinem Brot verschluckt hatte.
Du sahst mich an, ein kleines Lächeln auf den Lippen, und drehtest dich nach vorne, wo du die Fünftklässler beobachtetest, die auf dem Klettergerüst herum hampelten. Ich blickte dich noch einen Moment lang an, denn du übtest eine Faszination auf mich aus, weil ich noch immer keinen blassen Schimmer hatte, wer du warst und zu welcher Sorte Menschen du gehörtest.
Dann sah ich weg, weil ich Angst hatte, du könntest es bemerken.
„Das hab ich früher auch immer gemacht", sagtest du irgendwann, ohne dich zu mir zu wenden. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob dieser Satz damals an mich gerichtet war oder doch eher an dich selbst.
Ich war so überrascht darüber, dass du den Mund aufgemacht hattest, dass ich erst einmal gar nicht auf die Idee kam, dir eine Antwort zu geben. „Warum nicht mehr?", fragte ich dann, als mir eingefallen war, dass du vielleicht eine erwartetest.
Lange blieb es still. In meinen Ohren war die ganze Welt leiser geworden, als hätte man an einem Rad eines Radios gedreht. Das tust du oft, weißt du das? Die Welt zum Verstummen bringen. Vor Ehrfurcht.
„Niemand würde es sehen wollen. Und ich habe es satt, angesehen zu werden, als würde ich etwas falsch machen. Immer alles falsch machen." Deine Stimme war universumstieftraurig, während du das sagtest, und für einen winzigen Moment öffnete sich der Vorhang. Und ich sah, wie die Einsamkeit auf die Bühne trat. Wie sie schrie. Voller Verzweiflung.
Und wie sie trotzdem niemand sah. Nur ich.
Da hatte ich Angst. Angst davor, nicht zu reichen, um all deine Teile zu sehen, all deine eingesperrten Gefühle. Und ich hatte Angst vor deiner Angst.
„Ich würde es sehen wollen", hätte ich sagen sollen.
Doch ich schwieg. Aber vielleicht hat es auch gereicht. Vielleicht hat dein zartbitterschokoladenbrauner Ozean durch meinen graublauen Sturm geblickt in die Hurrikane der Gefühle, die in mir wüteten. Und verstanden. Weil sie auch in dir tobten.
Jetzt sind sie stumm.
Und ich sitze hier neben dir, ohne dich, und wünsche mir, dass sie zurückkommen und die Stille zerreißen mit ihrer Kraft.
Aber hier sind nur meine Tränen, und die schmecken nach Angst.

Alles Liebe,

Evelyn

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now