Sechster Brief: Labyrinthe menschlicher Taubheit

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Weil

meine Gefühle

sich vielleicht

mit mir

verirrt haben


Jonathan,


Ich sitze im Musikunterricht. Es ist Fünf-Minuten-Pause und Raphael spielt irgendein trauriges Klavierstück. Draußen ist einer dieser Tage, die einen schon traurig machen, bevor man einen Fuß vor die Tür gesetzt hat, und jetzt muss ich daran denken, wie du mir deine eigene Komposition vorgespielt hast.
Der Musikraum war offen, obwohl niemand darin war, und du zogst mich in den Raum, wo ich mich auf die Fensterbank und du dich auf den Klavierhocke setztest. Du strecktest dich, legtest deine langen Finger auf die Tasten, auf weiße nur. Du batst mich, die Augen zuzumachen.
„Okay", sagte ich und schloss meine Lider, gerade, als du zum ersten Ton ansetztest. Es war ein Dreiklang, ein Moll-Dreiklang, und aus irgendeinem Grund klang es unglaublich traurig. Und dann spieltest du verletzliche, hohe, absteigende Töne, wie Tränen, die die roten Wangen eines unschuldigen Kindes hinabtropfen; reine Tränen, die mehr wehtun als die eines Erwachsenen, weil sie die Welt sehen, wie sie ist. Mit all dem Leid, all dem Schmerz, und all den verirrten Gefühlen, die durch Labyrinthe menschlicher Taubheit wandern, ohne einen Ausweg zu finden.

Irgendwann während du spieltest, öffnete ich meine Augen. Und du spieltest, als würde dein Leben davon abhängen, und hinter dir entfalteten sich deine Flügel, groß und knisternd und ganz.

Dann kam jemand herein, die Tür schwang mit einem lauten Knarren auf, und deine Flügel zerbarsten. Und in den schattentränenschwarzen Scherben deiner Flügel spiegelte sich die ganze Welt.

Und ich sah, dass du wie ich warst: ein Kind, das nicht erwachsen werden wollte und das sich im erbarmungslosen, unaufhaltsamen Sturm der Zeit unsagbar verloren fühlte. Währenddessen verstummte die Musik, die die Kraft besessen hatte, meine verquere Zeit anzuhalten und für einen vergänglichen Moment in all dem Sturm ewig zu sein - und ich raste weiter.

„Wie Peter Pan, hm?", stellte ich trocken fest, als wir aus dem Raum gingen. Du wusstest genau, was ich meinte.

„Ja. Inzwischen weiß ich, warum Peter Pan nicht erwachsen werden wollte", sagtest du. Du sagtest es mit allem in deiner Stimme, all deinen Gefühlen, und ich sah, dass du in diesem Moment deinen Vorhang öffnetest. Du hast ihn mir gegenüber nie wieder geschlossen.

Und inzwischen weiß ich, dass deine Augen tatsächlich die schönsten sind, die ich jemals gesehen habe. Weil sie zeigen, wie viel du siehst mit deinen wunderschönen, zartbitterschokoladenbraunen Augen, und dass du noch nicht blind geworden bist in dieser viel zu grellen, viel zu schnellen Welt.

In einer Welt, in der die Monster nicht unter den Betten lauern und auch nicht in tiefen, schwarzen Schluchten, sondern in den Häusern und Straßen.

Denn die Monster dieser Welt sind alle Menschen.

Aber ich habe auch Menschen kennengelernt, die keine Monster sind.

Dich, allen voran. Denn Jonathan, dessen darfst du dir sicher sein: du bist kein Monster. Du bist der beste Mensch, den ich kenne.

Cassie. Cassie ist auch kein Monster. Natürlich macht sie Fehler, sie macht Fehler am laufenden Band, aber sie hat ein gutes Herz. Sie will nur helfen. Auf ihre eigene Weise, die vielleicht nicht immer richtig ist.

Aber das verstehe ich. Ich mache schließlich auch Fehler. So viele.

Und dann sind da noch Jayden und Anna.

Ich habe sie vor kurzem kennen gelernt – vielleicht hast du das ja gesehen, von da, wo du bist? Wo auch immer das ist? Oder kannst du dieses beschissene Krankenhauszimmer nicht verlassen? Obwohl du bestimmt nichts mehr willst?

Ich weiß jedenfalls, dass du noch da bist.

Ich spüre es.

Weil deine Stille mir nach all der Zeit immer noch Geschichten erzählt.

Wie früher.

Ich hoffe, dass Anna nicht zur Stille wird.

Ich kenne sie zwar nur sehr kurz, aber ich sehe es, Jonathan. Ich sehe, dass sie zwar noch lebt und ihre Worte laut und klar und deutlich sind, aber ich sehe auch, dass sie verblasst.

Bitte, Jonathan.

Bitte verblasse nicht. Nicht so wie Anna.

Anna hat das genauso wenig verdient wie du. Ich habe sie nur einmal getroffen, aber sie ist wunderbar.

Verstehst du? Sie ist einer dieser Menschen, die die Monster dieser Welt für einen Augenblick weniger monströs machen. Sie malt Lachen, und sie versprüht Leben, obwohl sie nur noch so wenig davon hat.

Und Liebe. Die versprüht sie auch. Davon hat sie viel. Ein ganzes Herz voll.

Und Jayden hat ihre Liebe so verdient. Er ist auch ein wunderbarer Mensch, und er ähnelt dir – aber keine Sorge, er ist trotzdem nicht wie du. Er hat aber auch ein wahnsinnig großes Herz, und ich sehe, dass er auch zerbricht.

Ich mache mir Sorgen, dass Annas Liebe zu viel für ihn ist.

Dass er daran zerbrechen wird.

So wie ich.

Ich zerbreche auch an Liebe. An meiner. Zu dir.

Denn die verblasst nicht.

Evelyn

Zartbitterschokolade | BeendetOnde as histórias ganham vida. Descobre agora