21 - Anna: Staubbluthöllen

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Vielleicht hätte ich mitbekommen, dass gestern Nacht etwas zwischen Evelyn und Jayden vorgefallen sein muss. Vielleicht hätte ich mitbekommen, wie verlegen, fast schon beschämt sie sich ansehen – oder eher nicht ansehen. Vielleicht hätte ich mitbekommen, wie wenig sie über den ganzen Morgen hinweg miteinander reden, und wie seltsam ihre Stimmen klingen, wenn sie es dann doch einmal tun.

Vielleicht hätte ich all dies mitbekommen, wenn mir nicht wieder so schlecht wäre. Wenn ich nicht wieder diesen zusammengeballten Schmerz in meinem Brustkorb spüren würde, als ob er mir die Rippen zerquetscht und zermalmt und sie zu Staub zerfallen, der mein Blut verdickt und verlangsamt. Wenn mein Körper nicht so müde wäre, so verdammt müde.

Halt noch diesen beschissenen Tag durch. Komm schon, verdammt.

Schließlich haben es mir die beiden versprochen. Ich war schon so lange nicht mehr in einem Zoo, dass ich mich nur noch vage erinnern kann, und ich will mich an einen Zoo erinnern können, wenn ich sterbe.

Wow.

Der Gedanke macht mir kaum noch Angst, fällt mir auf.

Denn wie viel mehr Schmerz soll ich beim Sterben ertragen, der diesen Schmerz übertrumpft?

Also rapple ich mich auf, zwar mit zusammengekniffenen Gesichtszügen und einem kleinen Schmerzenslaut, der trotz den stur geschlossenen Lippen meiner Kehle entweicht, aber ich tue es.

Ich flehe meinen Körper an, es noch diesen Tag lang durchzuhalten.

Dann werde ich ihn morgen erneut anflehen. Und übermorgen. Und an dem Tag danach.

Ich habe keine Ahnung, wie lang das funktionieren soll. Wie lange ich noch die nötige Energie aufbringen kann, um gegen meinen Körper anzukämpfen. Wie lange mein Körper noch mitspielt.

Denn, auch wenn ich versuche, es so wenig wie möglich zu zeigen, spüre ich, dass er nicht mehr kann.

Ich spüre es in jeder Bewegung, in jedem Schlag meines Herzens, das mein krankes Blut durch meine Adern pumpt.

Manchmal sehe ich, dass Jayden es auch spürt, dass ich nicht so gut vor ihm verbergen kann, was ich wirklich fühle, wie ich gehofft habe, und in diesen Momenten sehe ich diesen Ausdruck in seinen Augen, diese Angst, vermengt mit Mitleid und Verzweiflung und Schmerz.

Schmerz. Wie ich das Wort zu hassen gelernt habe.


Am Eingang des Zoos steht ein hochgeschossener, schlaksiger Mann mit Brille hinter einer Glasscheibe und verkauft uns die Tickets für teures Geld.

Evelyn schnaubt verächtlich, als sie ihm den Preis für ihre Eintrittskarte über den Tresen schiebt, und hat offensichtlich keine Lust, ihr Missfallen zu verbergen. Jayden und ich sind etwas diskreter, aber ich sehe an den sich zu Schlitzen verengenden Augen des Mannes, das er mitbekommen hat, was wir alle denken.

Arschloch.

Egal, denke ich. Von so einem Typen werde ich mir sicher nicht den Tag verderben lassen.

Das scheinen meine beiden Freunde genauso zu sehen, denn kaum sind wir drinnen, schlendern wir zu einer Eisdiele und wir kaufen uns alle zwei Kugeln. Ich Schokolade und Erdbeere, Evelyn nur weiße Sorten und Jayden Stracciatella und Pistazie.

Genüsslich an unserem Eis schleckend laufen wir zu dem ersten Gehege.

Ich muss mich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, und leider tut das so dermaßen weh, dass ich zischend die Luft einziehe.

Zartbitterschokolade | BeendetWhere stories live. Discover now