43. Am Marterort

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„Ich habe es jetzt begriffen, Daemonica", sagte er beim Frühstück. „Ich habe den ersten Fluch gebrochen, der auf dem Monster lag. In dieser Nacht habe ich den zweiten entdeckt. Ich kann mich jetzt willentlich verwandeln." Er führte es vor, indem er mit den Fingernägeln wie mit Krallen über den Tisch fuhr. Er musste Furor sein, bevor er ihn fühlte. Wenn er sich lange genug wie ein Monster benahm – was für ihn natürliches Verhalten war -, so trat es in Erscheinung. Als er Ja zu sich gesagt hatte, hatte er auch zu seinem als abnormal betitelten Verhalten Ja gesagt. Er ließ alles zu, was er normalerweise zweimal überlegte und unter Belastung spontan herausbrach. Er erlaubte, was nicht hatte sein dürfen. Er brach das Verbot, das er als sein eigener Täter fortgeführt hatte. Das war alles, was er je hatte tun müssen. Das Monster hatte sich gegen das Verbot gewehrt und durch Verwandlungen um Hilfe geschrien. Jetzt musste es nicht mehr schreien. Das Ergebnis war ähnlich, Furor blieb noch da. Aber er musste nicht mehr um seine Existenz kämpfen.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da wurden seine Krallen zu Fingernägeln, seine Haare zu Fell.
„Es dauert länger und hält für kürzere Zeit an." Er wusste es, bevor es geschehen war. Kaum war die Verwandlung vollständig, flaute sie schon wieder ab. „Ich werde üben. Ich werde euch stolz machen."
„Furor, ich erwarte keine Perfektion von dir. Lass mal den Druck ab! Was meinst du, wie vielen Leuten ich schon mit dem Schatten Starthilfe geben musste? Nonvisum hat auch so angefangen. Einmal stand er nackt auf der Bühne..."
„Wenn du das erzählst, schneid ich dir den Kopf ab!", drohte er mit erhobenem Brotmesser.
„Du kannst es dir sicher denken, was trotz überwältigender Scham nicht passiert ist." Er sprach es nicht aus, um sicherzugehen, dass jeder seinen Kopf behielt.
„Oder als wir am letzten Feiertag eine frühmorgendliche Sondervorstellung hatten, war Aura noch nicht wach genug, um irgendwas zu tun. Sie hat halb geschlafen, als ich die Vorstellung für sie gegeben habe."
„Wie machst du das? Wie löst du unsere Kräfte aus?"
„Ich stelle es mir vor und sage mir: Ich kann es."
„Das ist alles?" Dorian war fast enttäuscht. Er hatte ein größeres Geheimnis erwartet.
„Selbstvertrauen hat mehr Macht über dich, als du ihm zugestehst." Nonvisum legte das Brotmesser beiseite. Dorian atmete auf. Die Angst, Furor verloren zu haben, war verschwunden. Er würde ihn bis ans Ende seines Lebens begleiten. Und zum ersten Mal tat es nicht weh.

Der Zirkus brach das Zelt ab. Dorians verwandelte Kraft wurde überall gebraucht. Was haben sie bloß ohne mich gemacht?, dachte er gleichermaßen stolz wie angefressen. Er hob Eisenstange um Eisenstange auf einen Wagen und half Sem und Rem dabei, das Zelt zu falten. Er beneidete Serena darum, in ihrem Aquarium festzusitzen und nicht helfen zu können. Es dauerte den ganzen Tag, alles abzubauen. Und dann waren alle zu erschöpft, um die Reise nach Tilla anzutreten.
Tilla – Dorian war nicht bereit dazu, möglicherweise Zen wiederzusehen. Er mochte ihm vergeben und seinen Zorn hinter sich gelassen haben, aber die Angst war noch die des hilflosen Kindes, das er einst gewesen war. Seine Eltern gingen zwar hin und wieder in den Zirkus, aber nicht jedes Jahr. Er hielt ihren Besuch für unwahrscheinlich.
In Tilla würden sie drei Wochen bleiben. Eine lange Zeit für jemanden, der wegziehen wollte. Hier kannte ihn jeder. Er kam damit klar, vor Fremden aufzutreten, deren Urteile fielen nicht so streng aus. Sie kamen zur Show und gingen dann wieder, um kein zweites Mal in seinem Leben zu erscheinen.
Schon als sie das Ortsschild passierten, verwandelte er sich.
„Warte bis zur Show, Furor", sagte Boas, der die Zügel in der Hand hielt.
„Ich weiß nicht, ob ich auftreten kann. Hier kennen mich die Leute. Viele haben mich in beiden Gestalten gesehen."
„Vielleicht kommen sie alle zur Show. Wäre doch super. Wir brauchen das Geld. Und sagst du nicht selbst, du hättest eine Botschaft zu verbreiten?"
„Du hast Recht. Ein Botschafter der Wahrheit kneift nicht, wenn er seiner Vergangenheit gegenüber steht." Er versuchte, sich zurück zu verwandeln, als sie die ersten Häuser erreichten. Um zum Zeltplatz zu gelangen, mussten sie die ganze Stadt durchqueren. Es roch genau wie damals, nur Tarja stand nicht mehr an ihrem Platz. Man hatte sie durch eine Attrappe ersetzt, eine echte Statue aus billigem Zement.
Das Monster blieb im Körper. Die ersten fingen an zu glotzen. Dorians empfindliche Ohren hörten die schmähenden Worte:
„Das sind die Freaks! Bleib bloß weg von ihnen, sonst steckst du dich noch an!"
„Dass so was frei rumlaufen darf. Wozu gibt es denn die Magie-Gesetze?"
„Widerlich, ein Monster!" Er schaute zur anderen Straßenseite, wo die Menschen sich beschämt abwandten. Nur ein kleines Mädchen freute sich über den Besuch:
„Eine Meerjungfrau! Mama, können wir in den Zirkus gehen?" Dorian kannte niemanden. Es war Jahre her, dass er zuletzt in Tilla gewesen war. Die Menschen hatten sich verändert, zwangsläufig waren sie älter geworden und hatten Kinder bekommen. Waren sie dann auch reifer? Er hoffte es.
Der Aufbau des Zeltes erschöpfte das Monster. Da es zurück in Dorians Geist floh, dauerte der Aufbau bis spät in die Nacht.
„Wir sind total hinter dem Zeitplan", sorgte sich Daemonica. „Bis morgen Abend muss alles stehen, sonst machen wir Verluste." Sie studierte die Umsätze vom letzten Jahr. Ihre Lesebrille reflektierte das Licht, das Sem gerade angeschlossen hatte.
„Hier fällt gerne mal der Strom aus. Die Gegend ist tektonisch unruhig", berichtete er.
„Hattet ihr letztes Jahr ein Erdbeben?"
„Ja, das war auch der Grund, warum unsere Umsätze so mies sind", erklärte Daemonica. „Dieses Jahr müsst ihr euch alle besonders anstrengen." Sie klappte den Ordner zu und legte ihn in ihrem Wagen ab. In dieser Nacht schlief er ruhig, trotz des Drucks, den sie damit unwillentlich ausgeübt hatte. Dorian würde hier keine Mühe haben, sich zu verwandeln. Der Ort selbst war ein Auslöser.

Ein Mann, ein MonsterDove le storie prendono vita. Scoprilo ora