3. Testobjekt

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Kalte Hände, kaltes Stethoskop. Vier Männer und zwei Frauen, die sich über ihn beugten. Dorian hatte Angst. Wenn er Angst hatte, fand keine Verwandlung statt, denn dann fiel er in Starre. Zuerst hatten sie lange diskutiert:
„Es könnte sich um eine magische Fähigkeit handeln", vermutete eine Heilerin, die vor dem Edikt selbst als Hexe praktiziert hatte. „Sie verändert in seltenen Fällen den Körper."
„Aber nicht in dem Ausmaß", sagte die andere Frau, die vor dreißig Jahren Tarjas Ärztin gewesen war.
„Mein Großonkel zweiten Grades hatte rote Augen und konnte im Dunkeln sehen."
„Albinismus."
„Tarja hatte dicke Hornhaut an den Händen."
„Die hat sie von den vielen Explosionen bekommen."
„Ich glaube, wir können gar nichts tun, wenn wir seine zweite Gestalt nicht mit eigenen Augen sehen."
Um die Untersuchungen zu beginnen, waren sie darauf angewiesen, ihn mit Spritzen zu pieken und ihn eine Weile schreiend liegen zu lassen, damit das Monster durchbrach. Ein Alchemist hatte die Idee, ihn zu foltern, was sogleich verworfen wurde.
„Wir wollen seinen Körper erforschen und nicht seinen Geist brechen", sagte Dr. Brach.
„Er ist zu klein, um sich später daran zu erinnern", verteidigte der Alchemist seine Idee.
„Neueste Forschungen haben bewiesen, dass auch Babys Trauma-Erfahrungen machen können."
Einer war ein Geistheiler, der sich auf spirituelle Heilung und Psychotherapie spezialisiert hatte. Er warf ein:
„Lasst mich zu ihm durch. Ich möchte seinen Lebensstrom fühlen." Er betastete seinen verwandelten Körper mit geschlossenen Augen. „Er ist stark. Wahrscheinlich stärker als wir. Was auch immer ihn verflucht hat, es dient ihm zum Segen."
„Sie halten es für einen Fluch?"
„Jetzt nicht mehr. Es ist auch keine Krankheit, sondern eine Besonderheit. Er hat eine andere Art, auf Dinge zu reagieren."
„Wenn er größer ist, könnte seine Stärke zum Problem werden", vermutete ein Spezialist, der sich mit seltenen Krankheiten auskannte. „Wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass er andere angreift."
„Böswilligkeit habe ich in ihm nicht gespürt", antwortete der Geistheiler. „Das ist auch der Grund, warum er nicht unter einem Fluch stehen kann."
„Er ist einen Monat alt! Er kann noch gar nichts Böses wollen! Untersuche ihn noch einmal, wenn er das Schulalter erreicht hat. Dann wird er lernen, dass diese Bestie ihm hilft, alles zu bekommen, was er wollen wird."
„Ein Mensch hat ihn geboren, also muss er ein Mensch sein. Kein Monster. Ein Mensch mit einer Besonderheit, die er lernen wird zu kontrollieren." Dr. Brach nahm Dorian hoch.
„Bevor wir Vermutungen anstellen, sollten wir ihm Blut abnehmen. Wir müssen wissen, ob das, was immer er hat, ihn umbringen wird."

Mina fühlte sich seltsam befreit. Seit Wochen hatte sie keine Zeit für sich selbst oder ihren Mann gehabt. Dorian hatte immer in ihren Gedanken herumgespukt. Seine Gegenwart, seine Zukunft. Ihre Ehe hatte darunter gelitten. Sie wäre nicht die Erste, deren Ehe durch ein Sorgenkind zerstört würde. Ihre Schwester war alleinerziehende Mutter eines geistig behinderten Kindes und dadurch komplett ausgebrannt. Das Kind lebte in Obhut des Staates und sie selbst in einer Nervenheilanstalt. Herold hatte ihr gesagt:
„Das ist nur eine Geschichte. Ihr Schicksal ist nicht unseres. Ich fühle, Dorian ist stark. Er wird lernen, diese Stärke zu seinen Gunsten zu nutzen."
„Und wenn er sie gegen seine eigene Spezies einsetzt?"
„Diese Befürchtung besteht auch bei normalen Kindern. Das Böse – es ist uns entzogen. Darum fürchten wir es. Wir Menschen werden nie verstehen, wie es tickt und warum es existiert. Wir müssen es akzeptieren."
„Ich werde nicht akzeptieren, wenn mein Sohn böse wird."
„Wenn du ihn liebst, musst du ihn freilassen. Selbst, wenn er in sein Verderben geht. Irgendwann kommen alle Eltern an einen Punkt, an dem sie ihr Kind nicht mehr kontrollieren können. Es wird nach Freiheit streben. Und jeder Mensch hat Freiheit verdient."
„Es ist unsere Verantwortung, ihn zu erziehen."
„Erziehen bedeutet nicht, ihn nach deinem Willen zu formen." Er hatte Recht, sie neigte zu Kontrolle. War das ein Wunder in einer Welt voller unkontrollierbarer Phänomene? Tarja war der beste Beweis dafür. Solange Dorian noch formbar war, würde Mina ihm Grenzen setzen. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Dorian litt unter seiner eigenen Hilflosigkeit. Die Ärzte führten viele schmerzhafte Tests an ihm durch, nur um herauszufinden, dass an seiner menschlichen Gestalt alles normal war. Die Vermutung, er sei verflucht, kam wieder auf:
„Flüche ändern nicht die Gene, sondern die Seele", behauptete die ehemalige Heilerin.
„Da habe ich schon anderes erlebt", sagte Tarjas Ärztin. „Bei Tarja gab es nur wenige Auffälligkeiten, die auf den Phänotyp keine Auswirkungen hatten. Doch ich vermute stark, dass ihr Vater unter einem Fluch stand und diesen an sie vererbt hat, denn sonst..." ...wäre er kein Tyrann gewesen, vervollständigten die anderen insgeheim den Satz.
Der Alchemist dozierte:
„Dorian hat einen zweiten Körper. Theoretisch müsste er doppelt so viele Gene haben wie wir, aber das ist physiologisch nicht möglich und wurde bereits mit meinem letzten Test ausgeschlossen. Wenn wir die Technologie hätten, Mutationen einzelner Gene zu erkennen, würden wir sicher etwas finden." Der Spezialist kam mit seinem Testergebnis in den Saal:
„Gute Nachrichten: Es gibt keine Anzeichen für Zelltod, Krebs oder chronische Schwäche. Seine Krankheit ist nicht tödlich. Sie scheint ihn vielmehr stärker zu machen, sowohl, was sein Immunsystem als auch seine Alterung betrifft. Es ist möglich, dass er ein höheres Alter erreicht als wir."
„Oder die Unsterblichkeit?", fragte der Geistheiler.
„Ausgeschlossen", lachte der Spezialist. „Er ist immer noch ein Mensch." Die Kollegen überlegten weiter angestrengt. Die Hälfte der angesetzten Zeit war vergangen und sie waren nicht schlauer als vorher. Sie hatten lediglich bewiesen, dass Dorian kein Monster war.
Schließlich beschloss der Geistheiler, magisches Potenzial bei ihm zu messen:
„Nur, um es auszuschließen." Das Naheliegendste war ihnen fern erschienen, weil sie Fähigkeiten, die den Körper veränderten, nicht kannten. Seit dem Edikt wurde in der Schule nichts mehr darüber berichtet.
Nervös blickten alle auf den Zeiger einer Skala von 1 bis 20.
„19 von 20 Einheiten", verkündete man. „Seine Kraft ist sogar überdurchschnittlich stark."
„Verdammt", sagte Tarjas Ärztin.
„Vor 5 Jahren wäre das eine gute Nachricht gewesen", erinnerte sich Dr. Brach.

Nach den zwei Wochen präsentierten sie ihre Ergebnisse den Eltern:
„Nachdem wir alle genetischen oder tödlichen Erkrankungen ausgeschlossen haben, haben wir ein ungewöhnlich hohes magisches Potenzial gemessen." Der Alchemist meinte:
„Ich habe die Möglichkeit, ein Medikament herzustellen, was die Impulsivität hemmt. Für Kinder unter vier Jahren ist es allerdings tödlich. Und da die Rohstoffe sehr selten und teuer sind, wird auch das seinen Preis haben."
„Von wie viel sprechen wir?"
„1.000 Goldstücke."
„Uff", entfuhr es Herold. „Was mischen Sie hinein? Gold?"
„Unter anderem. Sie können Hilfe vom Staat beantragen. Wenn er allerdings erfährt, dass er magisches Potenzial hat, wird er ihn nicht mehr in Ruhe lassen. Dorian wird unter ständiger Kontrolle stehen."

Mina und Herold setzten all ihre Hoffnung auf das Medikament. Den Antrag hatten sie sofort ausgefüllt und abgeschickt, doch erwartungsgemäß dauerte eine Antwort lange. Die Überzeugung, dass etwas mit Dorian nicht stimmte, hatte tiefe Wurzeln geschlagen. Er war nicht wie alle anderen, und allein das reichte aus. Ob er selbst unter seinen Verwandlungen litt – das interessierte niemanden außer dem Spezialisten, der ihn auf tödliche Folgen seiner Verwandlungen untersucht hatte. Dorian war ja noch nicht alt genug, um für sich selbst zu sprechen.
Unzufrieden fuhren Dorian und seine Eltern wieder nach Hause. Minas Hintern schmerzte nach der langen Fahrt:
„Warum können sie bei dem aktuellen technischen Fortschritt keine selbstfahrenden Kutschen erfinden?"
„Diese neuartige Dampfmaschine könnte ein guter Weg dorthin sein."
„Ja, aber das Resultat ist immer noch sehr langsam."
„Es gibt diesen Alchemisten, der behauptet, dass Motoren mit Erdöl mehr Leistung erbringen."
„Von dem es nach einem Jahr keine Reserven mehr auf der Welt geben wird."
„Denk nicht so negativ über die Zukunft, Mina. Es wird sich schon alles fügen."


Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now