13. Fatah

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Nach der Operation gab man seinem Vater einen Gehstock. Dankbar über die Hilfsbereitschaft freundete er sich regelrecht mit ihnen an:
„Gibt es auch etwas, was ihr nicht habt?", scherzte er.
„Unsterblichkeit." Die Sonne war untergegangen. Die Kaufleute stellten ihre Wagen auf dem Feld ab.
„Wir übernachten öfters außerhalb von Städten. Die Bürger kaufen zwar bei uns, aber nicht alle wollen uns bei sich haben", erklärte die Frau, die sie zuerst angesprochen hatte. „Auf Räuber sind wir vorbereitet. Wir stellen bewaffnete Nachtwachen auf. Das bestätigt vermutlich das Bild, das ihr über uns habt."
„Nein", sagte Dorian. „Alles, was ich mit euch erlebt habe, hat mein Bild über fahrendes Volk zerstört. Ihr wart so hilfsbereit, obwohl wir Fremde sind. Dafür spreche ich euch meinen ergebensten Dank aus."
„Gern geschehen. Ihr könnt bei den Junggesellen im Wagen übernachten."
„Wir nehmen das Angebot an." Einer aus dem Volk war vorausgeritten, um Herolds Sachen und das Zelt aus seinem Wagen zu holen. Sein karger Besitz sollte nicht den Räubern zum Opfer fallen. Er nutzte die Gelegenheit, um die Gegend nach Räubern auszukundschaften. Sie griffen gerne mehrmals an derselben Stelle an. Ohne Hinweise auf kriminelle Aktivitäten oder wilde Tiere kehrte der Bote beruhigt mit dem gesamten Wagen zurück. Sie stellten ihn am Wegesrand ab, denn sie würden morgen entscheiden, ob sie weitergehen würden.
Als sie gemeinsam am Lagerfeuer saßen, lebte Herold richtig auf. Man hatte ihm ein starkes Opioid gegen die Schmerzen verabreicht. Er musste todmüde sein, genoss aber die Gesellschaft zu sehr, um sich hinzulegen. Dorian war auch nicht nach Schlafen zumute. Der Schock, beinahe erschossen worden zu sein, steckte ihm in den Knochen. Er hatte heute sowohl seine Allmacht durch die magischen Kräfte als auch seine Ohnmacht durch die Bedrohung seines Lebens erfahren. Er versuchte zu verstehen, wie es ihm gelungen war, den Schüssen auszuweichen. Er erinnerte sich kaum, das Monster hatte übernommen. Und wenn der Auslöser besonders stark war, hatte Dorian einen Filmriss. Verschwommen sah er vor seinem inneren Auge, wie er auf allen vieren durch den Wald stürmte, wie ein Wolf auf der Jagd nach einem Beutetier.

Als Dorian sich hinlegte, schlief er sofort ein. Das Monster brauchte Erholung, um im Falle eines erneuten Angriffs fit zu sein. Es litt jedoch unter der Erinnerung, denn mitten in der Nacht wachte Dorian von einem heftigen Albtraum auf, in dem er von Räubern gejagt wurde. Beunruhigt stellte er fest, dass er sich im Schlaf verwandelt hatte. Nein, bitte nicht, du darfst mir nicht noch mehr entgleiten... Er hatte sich noch nie im Schlaf verwandelt. Er hoffte, dass es eine vorübergehende Nebenwirkung des Schocks war. Und wenn es für immer so blieb? Seine zweite Gestalt wurde pro erlebtem Trauma einen halben Zentimeter größer. Darüber hatte Dorian keine Kontrolle. Würde das Monster ihm nun den letzten Zügel aus seiner Hand reißen?
Er blickte sich um. Alle schienen zu schlafen. Dorian legte sich wieder hin, das Monster verließ ihn. Er sagte sich, dass es nicht passieren würde. Er würde weder im Heim versauern noch im Wald wie ein Tier leben. Er würde die Kontrolle über sich zurückgewinnen, wenn er sich Zeit gab, die Erfahrung zu verarbeiten.
Dorian konnte nicht wieder einschlafen. Er fühlte sich wie gerädert. Wie lange war er verwandelt gewesen?

Am nächsten Tag entschied Herold, weiterzufahren:
„Bei Schmerzen hilft mir Ablenkung. Und ich habe genug Opium für eine Woche. Bis dahin geht es mir besser. Nur im Bett zu liegen würde meinem Bein nicht gut tun."
„Mir sagst du, ich soll auf meine Grenzen achten, aber deine achtest du nicht."
„Ich laufe ja nicht. Der nette Schwiegersohn meiner Ärztin hat mir einen Esel verkauft. Wir spannen ihn vor den Wagen."
„Und wenn wir noch einmal überfallen werden?"
„Dann verwandelst du dich." Er sagte es mit einem Lächeln. Er war stolz auf seinen Sohn. Er war immer stolz auf ihn gewesen. Dorian hatte es trotz seiner Behinderung weit gebracht. Er war von keiner Schule verwiesen worden und nicht im Erziehungsheim gelandet.
„Ich habe sie bestimmt einen Kilometer weit durch den Wald gejagt. Sie hatten die Hosen voll", berichtete Dorian ebenfalls mit einem Lächeln.
Im nächsten Dorf zeigten sie den Raubüberfall bei der Polizei an. Anzeige gegen unbekannt. Man sagte ihnen nur, die Bande sei bekannt, aber nicht ihr Aufenthaltsort. Dorian hatte ihnen die ungefähre Richtung ihrer Flucht genannt und als deren Grund angegeben, dass ihnen plötzlich die Munition ausgegangen war. Doch in der vergangenen Zeit könnten sie schon über alle Berge sein. Sie würden weiterhin Menschen bedrohen und ausrauben.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now