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Eine Krankenschwester hatte eine Erkältung eingeschleppt und Senar angesteckt. Es war gefährlich, mit ihm in einem Zimmer zu sein, denn wenn er nieste, schossen Stacheln aus seinem ganzen Körper, bohrten sich in die Wände, Matratzen und in Dorians Unterarm.
„Sieben Stacheln", zählte er, als er sie unter Schmerzen entfernte.
„Entschuldigung", schniefte Senar. „Das passiert immer, wenn ich krank bin. Ich denke, es liegt daran, dass meine Eltern beide Magier waren. Meinem Vater wuchsen die Stacheln, meine Mutter konnte ihre Fähigkeit zur Telekinese an andere weitergeben. Aus der Kombination dieser Gene bin dann ich entstanden. Wer von den Stacheln getroffen wird, steckt sich ebenfalls an. Er hat dann nicht nur die Erkältung, sondern schießt selbst mit Stacheln."
„Willst du damit sagen, du hast mir diese Behinderung vererbt?"
„Was für eine Behinderung? Magie ist eine Fähigkeit, wenn du sie zu einer machst. Du musst deine Schwäche zu deiner Stärke machen, dir der Held sein, den du nie hattest."
„Aber heißt das, ich kann jetzt dasselbe wie du?"
„Nur, solange du erkältet bist."
„Das kenne ich von mir ganz anders. Wenn ich krank bin, verwandle ich mich nicht. Dann braucht das Immunsystem die Energie."
„Ja, das ist auch bei den anderen hier so. Ich bin die einzige Ausnahme. Mein Körper bemerkt einen Feind und reagiert mit Abwehrmechanismen. Da ist es egal, ob der Feind außen oder innen ist."

Es klang so unglaubwürdig, dass Dorian es schnell wieder vergaß – bis er am nächsten Tag auch erkältet war. Als er nieste, stoben schwarze Stacheln aus seiner Haut. Sie durchlöcherten seine Kleidung, kamen überall durch, nur nicht an den Fußsohlen. Sie waren kleiner als Senars, aber genauso hart, denn sie bestanden aus Keratin. Die anderen mieden die Kranken, und sie verbrachten die meiste Zeit zusammen im Zimmer. Dorian blies Trübsal und kochte vor Wut, gleichzeitig und abwechselnd. Er hatte nicht um noch mehr Einschränkungen gebeten, sondern um mehr Normalität und Annahme durch die anderen. Er nahm es persönlich. Wahrscheinlich hatte Senar ihn absichtlich angesteckt, um nicht allein auf seinem Zimmer zu sein.
„Das letzte Mal lag ich flach, als ich mit Tarja in diesem Gebirge war", erinnerte er sich hustend.
„Du hast das Zackengebirge überstanden? Im Winter? Mann, bist du stark! Mir wäre alles abgefroren. Ich mag eher den Sommer."
„Ich glaube, dass das Monster mich geschützt hat, auch wenn es nicht immer rauskam. Es hält meinen Körper warm."
„Dann ist es ja doch zu was gut. Du meckerst immer, dass es überflüssig ist. Das kannst du jetzt aus deinem Vokabular streichen."
„Hm..."
„Ich gehe davon aus, dass das die Meinung der anderen war. Aber du und das Monster, ihr braucht einander. Du hast mir diese Geschichte mit den Räubern erzählt. Wärst du normal, wärst du vielleicht schon tot. Lass also die Leute reden, aber lass dir nichts von ihnen sagen. Wenn du immer zu hören bekommst, wie kaputt du bist, und wenn du dir das zu Herzen nimmst, wirst du nie das Heile an dir sehen."
„Das stimmt." Dorian zog gedanklich seinen Hut vor ihm. Von Senar hätte er so viel Weisheit nicht erwartet. Schließlich hatte er die Schule abgebrochen, um Künstler zu werden. Ein Sexualstraftäter hatte Dorian gesagt, was seine Seele hören musste. Senar war für ihn kein Täter mehr, der sich an unschuldigen Frauen vergangen hatte. Er war ein Freund. Jeder hatte kaputte und heile Seiten. Selbst das Zerbrochene konnte noch schön sein. Denn Risse in der Haut ließen Licht hinein.
Senar philosophierte weiter:
„Wenn du dich nur schämst und schuldig fühlst, bleibst du in deinem toxischen Kreislauf drin. Ich habe das selbst auf hartem Weg lernen müssen. Denn in Scham und Schuld will man leiden. Aber ich will nicht mehr leiden wollen. Deshalb schäme ich mich nicht mehr für das, was ich getan habe. Ich habe mich bei so vielen Opfern entschuldigt, wie es mir möglich war. Ich war jung und schwanzgesteuert. Jetzt benutze ich die Energie, um Schaschlikspieße für die Küche zu produzieren." Darüber lachten sie herzlich.

Die Schwester klopfte:
„Ich bringe das Abendessen und die Tabletten." Sie trug eine Rüstung, die bei jedem Schritt blecherne Geräusche erzeugte. Kein Zentimeter Haut lag frei.
„Geht's danach noch zum Ritterturnier?", kicherte Senar.
„Der Oberarzt hat mich angewiesen, diesen Schutz zu tragen. Ich solle nichts riskieren. Aber ich vertraue Ihnen. Bei der letzten Grippewelle haben Sie mich auch nicht angesteckt." Senar und die Schwester scherzten miteinander. Kaum zu glauben, dass sie sich so gut verstanden, obwohl Senar sie an seinem ersten Tag sexuell belästigt hatte. Beide hatten sich weiterentwickelt und besser kennengelernt. Der Sexualstraftäter war nicht alles, was ihn ausmachte. Er war gestorben und hatte den Boden für einen neuen Senar gebildet.
War das auch mit Tarja geschehen? Die Geschichtsbücher hatten sie als Massenmörderin beschrieben, weil sie eine war. Während Dorian an ihrer Seite war, hatte sie niemanden getötet. Doch während er sein Abendbrot aß, las er eine schreckliche Wahrheit in der Zeitung: Der alte Mann, den Tarja von seinem Tumor befreit hatte, war seinen Brandverletzungen erlegen. Sie hatte wieder getötet, doch sie hatte ihm helfen wollen. Es war ein Unfall. Sie hatte sich geändert. Sie hatte nur zu sehr auf sich selbst vertraut. Vertrauen ist immer ein Wagnis. Aber man muss wissen, wann man es wagen darf.
Er wollte glauben, dass sie im Herzen gut war, und andererseits dachte er immer wieder an die Warnung auf ihrem Sockel. Sie bedeutete: Werde nicht der Mörder, der du bist. Das Böse steckte in allen Menschen, es kam unterschiedlich zum Ausdruck. Niemand war deswegen besser oder schlechter. Er ahnte dunkel, dass Tarja eines Tages mehr Gerechtigkeit dafür zu spüren bekommen würde, als sie verdient hatte.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now