7. Der Hausdrache

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Als Dorian in der sechsten Klasse war, wurde seine Mutter krank. Sie lag hauptsächlich im Bett, übergab sich hin und wieder und ließ andere alles für sie machen. Herold verriet seinem Sohn nicht, was sie hatte, und so stellte dieser alle möglichen Mutmaßungen an. Falls ihre Krankheit sie dahinraffte, so stellte er mit Erstaunen fest, würde er ihr keine Träne nachweinen. In der Schule war Zen sein Fend. Zuhause war sie es. Sie hatte ihm nämlich verboten, sich zu verwandeln:
„Wenn dir niemand Grenzen setzt, muss ich es tun. Du musst erwachsen werden, und erwachsene Menschen haben sich im Griff."
„Ich bin doch erst elf!"
„Früh übt sich, wer was werden will."
„Ich will aber nichts werden! Ich will bloß leben!"
„Dir spricht ja niemand das Recht zu leben ab. Du darfst nur nicht so leben wie ein Monster. Und rede nicht in diesem Jammerton mit mir! Der kotzt mich an!" Er hatte ganz normal mit ihr gesprochen, vielleicht etwas impulsiv. Trotzdem war alles falsch, was er tat, sogar seine gewöhnlichste Stimme.
„Ja, Mama."
„Ich will auch kein „ja, Mama" mehr hören! Wenn dir jemand was sagt, sagst du „okay", in einem neutralen Ton, aber mit fester Stimme. Niemand will einen Jammerlappen in der Gesellschaft. Und ein Monster will auch niemand. Das ist verboten. Warum kannst du nicht einfach normal sein?"
„Ich kann es nicht steuern."
„Du bist jetzt alt genug, um über deine Handlungen und deren Konsequenzen nachzudenken. Also wirst du lernen, es zu steuern, ob du willst oder nicht. Niemand darf dein wahres Ich sehen, Dorian."
„Das Ding ist nicht mein wahres Ich." Danach überlegte er vor dem Spiegel, ob diese menschliche Gestalt mit den wirren schwarzen Haaren sein wahres Ich darstellte. Es fühlte sich nicht so an. Jede Verwandlung glich der Machtergreifung einer fremden Autorität. Was war dann sein wahres Ich? Das Monster schloss er aus, da es nicht seine normale Gestalt war und es ihm schwerfiel, sie zu halten, wenn er erschöpft war. Gab es ein wahres Ich? Gab es mehrere? Oder gab es Menschen ohne Seele? Das muss die Antwort sein. Ich habe keine Seele. Darum mögen Menschen mich nicht. Darum werde ich täglich zu einem Monster. Denn Monster haben keine Seele.

Sommerferien. Er musste Zen nicht sehen, dafür kämpfte er gegen den Drachen, der über sein Zuhause herrschte. Seine Mutter schrie ihn täglich an und begann wieder, ihn zu schlagen:
„Du nervst mich dermaßen! Hätte ich früher gewusst, wie du wirst, hätte ich dich abgetrieben!"
„Ich habe doch nur gesagt, dass ich gestern schon den Schweinestall groß ausgemistet habe!", brüllte Dorian zurück. „Warum kann das nicht mal jemand anderes machen?"
„Solange du unter meinem Dach lebst, gelten meine Regeln! Da gibt es nichts zu widersprechen! Du bist so frech, manchmal möchte ich dir einfach den Mund zukleben." Manchmal drohte sie ihm mit dem Heim. Es bewirkte das Gegenteil, denn er wäre lieber im Heim, als noch sieben weitere Jahre mit seiner Mutter zu leben.
Nicht einmal das stille Befolgen eines Befehls bewirkte etwas gegen ihre Aggression:
„Nie machst du was richtig! Spiegeleier habe ich gewollt, nicht Rühreier!" Er glaubte, sie wolle seine Verwandlungen absichtlich hervorrufen, um einen Anlass zu haben, mit ihm zu schimpfen und zuzuschlagen. Jedenfalls wuchsen schon schwarze Haare auf seinen dürren Armen, und als sie ihm einen rechten Haken verpasste, gingen sie wieder zurück.

Seine Mutter hatte aufgehört, sich zu übergeben. Sie hatte also entweder ein unsichtbares oder ein seelisches Leiden. So weit war Dorian in seiner Forschung durch Beobachtung gekommen. Es marterte ihn, dass seine Eltern sich darüber ausschwiegen. Als ob er kein Recht auf Informationen hatte, nur weil er minderjährig war! Dorian lebte genauso in diesem Haus wie seine Eltern, er half gegen seinen Willen täglich im Haushalt mit.
Vor seinem Wechsel in die höhere Schule sprach Mina endlich die Wahrheit aus:
„Ich möchte, dass du weißt, warum ich in letzter Zeit so reizbar bin. Ich habe mein Kind verloren." Da Dorian alles intensiver fühlte als andere, war er geschockt. „Es hatte nichts mit dir zu tun, aber ich habe es an dir ausgelassen. Das tut mir Leid. Vergib mir."
„O-okay." Dorian erlebte zum ersten Mal, dass sie echte Reue zeigte und sich Schuld eingestand. Doch es hielt nicht lange an:
„Ich habe gedacht: Warum durfte das Monster leben und sein Geschwisterchen nicht?" Mina war sich sicher, dass das zweite Kind kein Gestaltwandler geworden wäre. Zweimal überfiel dasselbe Unglück keinen Menschen.
Dorian wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte alles, was man fühlen konnte: Trauer um das verlorene Kind, Freude, dass er endlich eingeweiht wurde, und Entrüstung, weil Mina wieder eine Gelegenheit gefunden hatte, ihn zu beleidigen.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now