37. Jede Tat hat ihren Preis

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Am Ende des Winters wurde Umar krank. Er hörte nicht mehr auf zu husten. Dorian ging ihm aus dem Weg, um sich nicht anzustecken, denn wenn er auch krank wurde, versorgte niemand mehr die Tiere. Umars Schwester Hua lud seine Wurst, Käse und Kartoffeln in ihren Karren, um sie für ihn auf dem Markt zu verkaufen. Für Dorian hatte sie von Anfang an wenig übrig:
„Du lässt einen Kriminellen bei dir wohnen?", hatte sie ihrem Bruder zugeflüstert, als sie glaubte, Dorian höre es nicht.
„Seine Arbeitskraft ist so gut wie jede andere."
„Du musst an deinen Ruf denken. Wenn die Leute das erfahren, kaufen sie deine Produkte nicht mehr." Sollte sie doch urteilen. Dorian hielt Hua ohnehin für eine eingebildete Person, die sich über jeden anderen erhob. Immerhin wusste sie nichts von seiner magischen Kraft. Wahrscheinlich würde sie sich dann in seiner Gegenwart die Nase zuhalten, in der Vermutung, es sei ansteckend. Er kicherte über die Vorstellung, als er ihr die letzten beiden Käselaibe aus dem Keller holte.
Der Staub brachte ihn zum Niesen. Dorian sollte hier saubermachen. Er hatte viel zu tun, schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Nebenher musste er Suppe für Umar kochen und einen Inhalator kaufen.

Es nützte nichts. Umar wurde schwächer und bekam hohes Fieber. Er hatte angefangen, Blut zu husten. Der Arzt hatte schlechte Neuigkeiten:
„Eine fortgeschrittene Lungenentzündung, aufbauend auf der unbehandelten Tuberkulose." Tuberkulose? Dorian hatte ihn öfters husten hören, aber Umar hatte es auf jahrelanges Rauchen geschoben.
„Ich kann nichts mehr für ihn tun", sagte der Arzt und packte seine Sachen zusammen. „Morphium lindert die Schmerzen, aber angesichts seines Alters schaden Antibiotika mehr, als sie nützen."
„Dorian, hol dir was zum Schreiben. Ich mache mein Testament", röchelte Umar.
Er suchte sich einen Block aus dem Wohnzimmer – entfremdet. Dorian wollte nicht wahrhaben, dass sein Vermieter, der erste nach seinem Vater, der ihn vorbehaltslos akzeptiert hatte, im Sterben lag. Was würde aus Dorian werden? Er befürchtete das Schlimmste, und es bestätigte sich, als Umar ihm das Testament diktierte:
„Ich, Umar Zinos, verfüge im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass meine drei Grundstücke sowie der Hof nach meinem Ableben in den Besitz meiner Schwester Hua Zinos übergehen. Mein Mieter Dorian Fenn soll weiterhin dort wohnen und arbeiten, sofern sie es erlaubt. Ich wünsche, neben meiner verstorbenen Frau Moya Zinos beigesetzt zu werden. Dreitausend Silberstücke sollen maximal für die Beisetzung ausgegeben werden. Als schlichter Mensch bin ich mit einer schlichten Bestattung zufrieden."

Nervös tätigte Dorian Anrufe: Er bestellte Hua her, damit sie ihm in den letzten Stunden beistand, und sagte seiner Bewährungshelferin Bescheid. Er selbst wollte Umar nicht beim Sterben zusehen. Eigentlich war er im Haus ein Fremder, völlig zu Recht entfremdet. Der Tod war etwas Intimes, das man nur mit der engsten Familie teilte. Dorian war noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Er hatte unerlaubt zugesehen, wie Adis im Garten verscharrt wurde. Seine Eltern hatten den Tod von ihm ferngehalten. Zu Tarjas Beisetzung hatte er es aus Zeitgründen nicht geschafft, denn der Polizist musste ihn rechtzeitig vor seinem Feierabend zurückbringen. Starben deshalb so viele in seiner Nähe, weil der Tod ihn über seine Macht aufklären wollte? War es endlich an der Zeit für Dorian, sich mit ihm zu konfrontieren? Musste er gar etwas nachholen, was er als Kind nicht erlebt hatte?
Er setzte sich auf einen Gartenstuhl und dachte nach. Er bemerkte nicht, dass er zu weinen begonnen hatte. Er verlor den einzigen Menschen, der ihn je hatte arbeiten lassen, auch wenn er sich dabei den Rücken kaputt gemacht hatte. Noch immer ging er jede Woche zur Physiotherapie. Den Preis hatte er gerne für die Möglichkeit zu arbeiten bezahlt. Er wollte leben wie ein normaler Mensch, und Arbeit gehörte dazu. Ein Monster arbeitete nicht. Ein Monster gehörte weder zu den Tieren noch zu den Menschen.
Auf der Arbeit hatte er sich mehrmals verwandelt. Und kein einziges Mal war Umar in der Nähe gewesen, um es mitzubekommen. Mit der Übernahme des Hofs durch seine Schwester würde es sich ändern. Die Frau triggerte ihn schon, wenn sie einfach so war, wie sie war. Sie hatte etwas von Mortimer. Unmöglich, dass sie mit Umar verwandt war.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now