36. Akzeptanz

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Am Wochenende jährte sich der Tag, an dem Tarja in Acadia einmarschiert war. Syca hatte ihn zu einem Feiertag erklärt, obwohl es nichts zu Feiern gab. Die Regierung wollte damit an das Böse in jedem Menschen erinnern. Die Fahnen hingen auf Halbmast, manche trugen sogar Schwarz aus Scham darüber, das Volk von Tarja zu sein.
Umar gab Dorian einen Tag frei:
„Du arbeitest so hart, das hast du dir verdient. Ich habe heute auch nicht so viel zu tun. Ich gehe zu meiner Schwester und hole den neuen Hund ab."

Dorian machte einen Spaziergang zu der Stelle, wo er den Wolf gesehen hatte. Die Schafe warteten im Stall, bis der neue Hund eingetroffen war. Das hielt Umar dann doch für sinnvoller, als Dorian bei der Herde herumsitzen zu lassen.
In seiner Tasche hielt er einen Brief. In einer Stunde fand eine Demonstration gegen die Unterdrückung von Magiern statt und er war als Redner eingeladen worden. Er hatte am Morgen, als er frei bekommen hatte, telefonisch zugesagt. Darum hielt er sich nicht lange am Waldrand auf, sondern begab sich in die Stadt. Wohl fühlte er sich nicht dabei. Er sprach nicht gerne vor vielen Menschen. Aber es war wichtig, seine Erfahrungen zu teilen. Er war der Stein, der eine Lawine ins Rollen brachte.

Und so stand er auf der hastig aufgebauten Bühne. Er zitterte kaum. Der Wille, etwas zu bewegen, war größer als seine Angst. Er hielt auch das Monster in Schach.
„Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Mir liegt es sehr am Herzen, dass das neue Gesetz zur Kontrolle straffälliger Magier nicht umgesetzt wird. Sie brauchen Freiheit und nicht noch mehr Ketten. Mir persönlich liegt das Thema sehr am Herzen, weil ich ein Betroffener bin. Sie kennen mich vielleicht aus der Zeitung. Ich bin Dorian Fenn. Ich habe Mortimer aus Ilea besiegt." Ein Murmeln ging durch die Menge. „Aufgrund dessen habe ich eine Haftstrafe in einer forensischen Psychiatrie verbüßt. Ich dachte: Kein Mensch kann diesen Mann bezwingen. Nur ein Magier könnte das. Also habe ich mich in ein Monster verwandelt und ihm einen Lendenwirbel gebrochen. So kam die Regierung Ileas an wichtige Informationen über die Rebellen. Der Krieg ist zwar immer noch nicht entschieden, aber ich habe verhindert, dass noch mehr unschuldige Menschen durch Mortimers Hände sterben. Ich will damit nicht sagen, dass ich unschuldig einsaß. Ich möchte, dass der Staat in so einem Fall gnädiger mit uns umgeht. Ich habe mich nur verteidigt. Er hätte mich getötet, wenn ich es nicht getan hätte. Und danach hätte er den verängstigten Jungen getötet, den er vorher seiner Kräfte beraubt hat. Darf der Staat zulassen, dass dieser Junge stirbt, nur weil ein Soldat wegen eines Gesetzes keine magischen Kräfte einsetzen darf?
Tarja Junaz war verantwortlich für das Gesetz, das uns diskriminiert. Das uns schon ein Bußgeld aufdrückt, wenn wir unsere Kräfte nur zeigen. Warum dürfen wir uns nicht zeigen? Sind wir ein Geheimnis, für das der Staat sich schämt? Muss man uns verstecken? Was ich will, ist wahre Inklusion! Ich stehe hier für die Akzeptanz derer, die anders sind und deswegen ausgeschlossen werden. Ich stehe hier, weil ich weiß, welches Trauma diese Ablehnung verursacht. Sie macht es nur schlimmer. Ich stehe hier, weil ich wie ein Mensch und nicht wie ein Monster behandelt werden will! Ich stehe hier, weil ich ein Mensch und kein Monster bin!"
Die Menge jubelte. Das Gesicht einer Frau in der ersten Reihe glitzerte. Irgendwo hinten warf jemand einen kleinen Feuerball hinauf, der in der Luft verpuffte. Hier war er unter Gleichen. Hier gehörte er hin. Allerdings lebten diese Menschen gefährlich, denn die Zurschaustellung von Magie außerhalb von Freakshows wurde mit Bußgeldern geahndet.
„Ich kannte Tarja Junaz, denn ich habe ihr zur Flucht verholfen. Sie hatte keinen angenehmen Charakter. Aber sie hat mich mehrmals vor dem Tod bewahrt und mich gelehrt, das Leben wertzuschätzen. Tarja war mehr als die Mörderin, die wir am heutigen Gedenktag in ihr sehen. Sie war vor allem ein Mensch, der überleben wollte. Sie hat dafür Gesetze gebrochen. Was ist das für eine Welt, in der manche von uns straffällig werden müssen, um zu überleben? Was ist das für eine Welt, in der wir in Anstalten abgeschoben und mit Opiaten vollgepumpt werden? Ich mag psychisch nicht gesund sein, das sind die wenigsten Magier. Und warum? Weil nicht die Kraft selbst das Trauma verursacht, sondern die Ablehnung, die damit einhergeht! Wenn wir Magier akzeptieren, dann werden sie sich auch selbst akzeptieren. Dann sehen sie keinen Grund mehr, in die Kriminalität abzurutschen oder sich zu wehren.
Seht mich nur an. Als ich ein Kind war, war meine zweite Gestalt genauso groß wie ich. Doch je mehr Schmerz ich erlebte, desto größer und stärker wurde das Monster. Was mir gefehlt hat, ist nur eine Sache: Akzeptanz. Ihr müsst uns nicht lieben. Ihr müsst uns nicht verehren, weil wir Übermenschen sind, denn das sind wir nicht. Ihr müsst uns nur existieren lassen. Dankeschön." Er stieg von der Bühne, begleitet von Pfiffen und Applaus. Viele Menschen lobten ihn für seine Worte. Die Polizei, die die Demonstration mit Pferden begleitete, hatte auch nicht eingegriffen, denn es galt freie Meinungsäußerung. Hoffentlich hatte seine Bewährungshelferin nichts dagegen.
Die Demo rollte sich wie eine Raupe durch die Stadt, hielt Schilder hoch und wiederholte Rufe:
„Leute, lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein!"
„Inklusion und Akzeptanz zieh'n keinen bösen Rattenschwanz!" Dorian lief ganz vorne mit. Gerne hätte er sich für die Demo verwandelt, denn wenn sie sahen, dass ein Monster sich wie ein Mensch benehmen konnte, hätte dies seine Botschaft verstärkt. Er glaubte nicht, mit dieser geringen Anzahl an Demonstranten etwas zu bewegen. Aber er hatte das Andenken an Tarja gewahrt. Vielleicht hatte er sie kennenlernen müssen, um nun die Welt zu ändern.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now