14. Loslassen

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Er roch das Meer, bevor er es sah. Ein starker Fischgeruch schwängerte die Luft. Sonne und Wolken wechselten sich am Himmel ab. Hinter den grasbewachsenen Dünen wartete ein makelloser Sandstrand. Ein Mädchen lief auf dem Wasser, und der Teenager, der fliegen konnte, forderte sie zu einem Wettrennen zur Boje auf. Die Wasserläuferin jubelte, als sie die Boje zuerst abklatschte. Der Fliegende wurde von einer Windbö erfasst und konnte sich nicht mehr in der Luft halten. Er klatschte frontal ins Wasser. Das Mädchen lachte. Auch Fatah lächelte. Dorian kannte dieses Lächeln. Es war gequält. Fatah ging es nicht gut. Die Macht, die ihr den Hals zuschnürte, war dieselbe, die Kunstwerke aus Pflanzen erschuf.
Da erkannte Dorian eine wichtige Wahrheit: Für jede Stärke bekommst du eine Schwäche. Das ist ausgeglichen und gerecht. Somit gibt es zwei Mächte in uns, die gegeneinander kämpfen. Menschen sind widersprüchlich. Alle, nicht nur ich. Eine Schwäche kann eine Stärke gänzlich auslöschen. Wer hoch fliegt, wird tief fallen. Aber wer gefallen ist, kann auch wieder hoch fliegen.
Der Strandabschnitt war klein und mit hohem Zaun abgegrenzt. Hinter dem Zaun flatterte die Plane von Dorians Zelt im Wind. Er hätte sie besser fixieren sollen. Noch war sein Heim außerhalb des Zauns. Er fühlte sich fremd an diesem Ort. Anders unter Gleichen. Sein Lebensraum war die reale Welt, nicht dieser goldene Käfig. Wenn er sich in der realen Welt anpassen musste, so war er mehr als bereit, dieses Opfer zu bringen. Ich bin nicht behindert! Ich bin normal und ich werde es beweisen! Aber noch nicht heute.

Die Zurschaustellung übernatürlicher Macht auf dem Meer imponierte Dorian gleichermaßen, wie es ihn aufforderte, mitzumachen. Ohne ihn anzusehen, sagten ihm die anderen, er solle loslassen, was in ihm auf Befreiung wartete, bevor er zurückkehrte und sich in einen Menschenanzug zwängte, der ihm nicht passte. Das ist es doch, was du willst, Monster? Wenn ich Ja zu dir sage, dann sagst du auch Ja zu mir. Wenn ich dir Lebenszeit gönne, dann wirst du mir gehorchen, wenn ich mal Nein zu dir sage, denn du weißt, dass dir ein Zeitpunkt gegeben wird –vielleicht morgens vor der Schule-, an dem du dich abreagieren darfst. Dorian beschloss, regelmäßig das Monster rauszulassen. Fatah hatte ihm gesagt, nicht verbrauchte Energie würde ihn auffressen. Es war ein großer Schritt für ihn. Damals vor der Sportprüfung war er dem Monster zaghaft entgegen gekommen, nach dem Motto: Du darfst kommen, aber friss mich nicht auf. Nun lautete das Motto: Unterwirf mich. Friss mich auf, damit das Gleichgewicht der Kräfte wiederhergestellt wird!

„Fatah, ich würde dir gerne zeigen, was ich kann. Du hast mir gesagt, wenn ich es zu stark kontrolliere, frisst es mich auf. Also werde ich ihm erlauben, die Kontrolle zu übernehmen. Aber es kommt nur, wenn ich mich aufrege oder wenn ich Angst habe. Ich habe Angst vor tiefem Wasser. Darum werde ich jetzt baden gehen und bis zu dieser Boje schwimmen. Wenn ich mich verwandle, gut. Wenn ich mich nicht verwandle, auch gut." Jetzt interessierte es sie, was er mit Verwandlung meinte. Er sprach mysteriöse Worte, die ihre eigene magische Energie in freudige Nervosität transformierte.
Sie folgte ihm ins Meer. Er blieb an der Stelle stehen, wo ihm das Wasser bis zum Hals stand. Einen Schritt weiter und er müsste schwimmen. Im Wasser hatte er seinen ersten Anfall vor nicht eingeweihten Menschen gehabt. Hier war er sicher. Wenn es passierte, würde keiner schreien. Vielleicht würden die Leidensgenossen sich sogar für ihn freuen. Wenn es nicht passierte, wäre es eine Übung für sein erträumtes Leben unter den Normalos. Aber nun wollte er sich verwandeln, einmal ganz er selbst sein, wo er es durfte. Die Begegnung mit den Räubern war eine Ausnahmesituation gewesen. Eigentlich hätte er sich normal verhalten müssen. Wenn die Räuber herumerzählten, dass sie von einem Monster verfolgt worden waren, hätte es für ihn negative Konsequenzen. Er hoffte einfach, dass sie entweder dicht hielten oder niemand ihnen glaubte. Möglichkeit eins hielt er für wahrscheinlicher. Vor Kriminellen würden sie sich für den fehlgeschlagenen Überfall schämen, und andere Menschen durften nicht wissen, dass sie Räuber waren, sonst hetzten sie ihnen die Polizei auf den Hals. Er hatte Glück gehabt, doch beim nächsten Mal könnte seine Strafakte darunter leiden.
Er stieß sich ab und begann zu schwimmen. Er hatte es in der Schule lernen müssen, unter vielen Tränen und Verwandlungen. Er sah nicht nach unten, wo möglicherweise der Tod lauerte. Gab es Monster im Meer? In der Tiefsee lauerten hässliche Kreaturen mit leeren Augenhöhlen und scharfen Zähnen. Er war entschlossen als das Monster, das er selbst war, gegen sie zu kämpfen. Heute würde das Wasser ihn nicht verschlingen.
Eine Alge berührte sein Bein. Er zuckte zusammen, doch keine Verwandlung. Er hatte es auch nicht erwartet. Er war zu entspannt. Er und Fatah hatten die Boje ohne besondere Vorkommnisse erreicht.
„Es geht nicht. Du musst mich provozieren", forderte er sie auf. Wenn sie ihn unter Wasser drückte, würde die Verwandlung schneller erfolgen, als er einatmen konnte. Fatah überlegte, als ob die Entscheidung zu groß für ihren Verstand wäre. Ihre nachdenkliche Miene setzte Dorian unter nervösen Druck. Die Angst machte direkt vor der Toleranzgrenze Halt, die sein menschliches Selbst von seinem tierischen trennte. Er hatte immer noch Angst vor sich selbst. Eine Verwandlung tat weh, hatte Scham- und Schuldgefühle zur Folge. Sie bedeutete Unfreiheit, sperrte ihn in einem falschen Körper ein, umrandet von einem tierischen Verstand.

Ein Mann, ein MonsterNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ