6. Erzwungene Therapie

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Minas Angst vor dem Elterngespräch übertrug sich auf Dorian. Sie sprach es zwar nie an, bis es so weit war, aber die Atmosphäre war geladen. Er versuchte, wach zu bleiben, um gleich danach zu erfahren, wie das Urteil über ihn lautete. Wer nämlich von der Schule flog, wurde nur schwer an anderen Schulen aufgenommen. Dann war der Ruf für immer ruiniert. Diese Menschen wurden zu ungelernten schweren Arbeiten gezwungen. Und Dorian träumte davon, Lehrer zu werden, um Kinder zu unterstützen, die so waren wie er. Er würde niemanden aus seiner Klasse werfen, nur weil er anders war. Anders hieß nicht automatisch schlecht, auch wenn er langsam lernte, diese Begriffe gleichzusetzen.

„Mein Kind fliegt von der Schule, und alles ist meine Schuld!", weinte Mina auf dem Weg zu dem Gespräch.
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ich verstehe nicht, warum du dir Sorgen machst. Er hat niemanden körperlich angegriffen, die Leute haben bloß gemerkt, dass er anders ist. Anders sein ist kein Verbrechen, Mina."
„Sie wird merken, dass ich eine schlechte Mutter bin. Ich habe alles dafür getan, dass er sich nicht verwandelt! Aber er hört ja nicht auf mich!"
„Er kann es gar nicht steuern. Es passiert einfach, wie ein Niesen."
„Ein Niesen kann man unterdrücken."
„Ja, aber nur mit viel Kraft, und wenn man dann implodiert, fühlt es sich falsch an. Ich denke, da geht es Dorian ähnlich. Er will sich nicht verwandeln, aber es ist keine Willensentscheidung."
„Wenn er an sich arbeiten will, wird er auch Erfolg haben. Und er muss an sich arbeiten, um von den Leuten akzeptiert zu werden."
„Das ist leider richtig. Was der Bauer nicht kennt, das hasst und fürchtet er." Sie stimmten überein, dass Dorian sich ändern musste, um in die Gesellschaft zu passen. Es wäre schwieriger, die Gesellschaft für einen einzelnen zu ändern.

„Hat Dorian in seiner Monstergestalt je einen Menschen oder ein Lebewesen körperlich angegriffen?", fragte Frau Dais.
„Nein, das wird er auch nicht", versicherte Herold ihr glaubhaft. „Er hat nicht den Charakter dafür. Er achtet das Leben." Er übernahm das Reden, weil Mina nicht zu ihrem Sohn stehen konnte.
„Kann er seine Verwandlungen steuern?"
„Nein, sie geschehen automatisch, wenn er ein starkes negatives Gefühl verspürt."
„Das könnte an unserer Schule zum Problem werden. Muss es aber nicht. Wir werden alles tun, damit er sich in der Klasse wohlfühlt und dem Unterricht folgen kann. Hat er sich dazu geäußert, wie er die anderen Mitschüler empfindet?"
„Ein Junge hat ihn wohl geärgert, bevor er das Bild zerrissen hat. Über die anderen spricht er positiv."
„Wissen Sie seinen Namen?"
„Nein." Dorian hatte ihnen jedoch eine gute Beschreibung des Jungen geliefert, und Frau Dais erkannte den Übeltäter:
„Zen. Ich habe schon festgestellt, dass sein enormes Selbstbewusstsein ihm und anderen manchmal das Leben schwer macht. Ich werde mit seinen Eltern sprechen, damit sich dieser Vorfall nicht wiederholt. Haben Sie schon über eine Therapie für Dorian nachgedacht, damit er mit seiner Besonderheit besser umzugehen lernt?"
„Wir können sie uns nicht leisten."
„Die Schule würde für die Kosten aufkommen. Viele Kinder mit magischen Fähigkeiten lernen dadurch, sie zu modulieren."
„Werden Sie die Behörde informieren?"
„Nicht, solange er noch nicht strafmündig ist. Die Therapeutin steht unter Schweigepflicht. Vor seinem 14. Lebensjahr kann er sich verwandeln, wie er will, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Und auch danach darf ich nur etwas melden, wenn ich weiß, dass er jemandem damit geschadet hat. Allerdings sollten wir uns darum kümmern, dass er sich bis dahin unter Kontrolle kriegt."
„Ist die Therapie Voraussetzung dafür, dass er die Schule weiter besuchen darf?"
„Ja." Und damit war es beschlossen. Mina war beruhigt. Sie glaubte, es sei das Beste für Dorian und man müsse ihn, wenn es notwendig war, zu seinem Glück zwingen.

„Ich habe schon viel von dir gehört", begann Frau Wim, die Therapeutin. „Aber möchtest du mir erst einmal selbst erzählen, warum du hier bist?" Sie reichte ihm Stifte und Papier. Er malte sofort seine zweite Gestalt.
„Weil ich das hier bin."
„Okay. Wie fühlt es sich an, das da zu sein?"
„Blöd. Wie ein Brennen. Wenn ich eine Weile drin bin, geht es, aber die Verwandlungen selbst tun mir weh."
„Körperlich?"
„Ja... Nein. Eher..."
„Emotional?", schlug sie vor.
„Auch. Es ist was dazwischen."
„Viele Gefühle lösen Körperempfindungen aus. Wenn du zum Beispiel Angst hast, schlägt dein Herz schneller."
„Ich habe oft Angst."
„Wovor?" Darüber wollte er nicht sprechen. Diese Frau petzte brühwarm alles seinen Eltern. Selbst er durfte Geheimnisse haben! Selbst er war ein Mensch mit Rechten!
„Dein Bild gefällt mir", wechselte sie das Thema.
„Das ist nur Gekritzel."
„Nein, es ist abstrakt. Solche Bilder hängen zuhauf im Museum."
„Ich hasse es."
„Warum?"
„Weil etwas drauf ist, was ich hasse."
„Du hasst dich selbst?" Er dachte an sich selbst. Seine Eltern. Seine Lehrerin. Seinen Peiniger. Diese Verwandlung fühlte sich anders an. Sie dauerte länger, schmerzte weniger und gab ihm kein Gefühl von Kontrollverlust. Der Wille seiner dunklen Seite wurde zu seinem. Er wollte sich verwandeln!
„Warum hast du dich jetzt verwandelt?" Es ärgerte ihn, dass sie das Offensichtlichste nicht kapierte. Er bedrohte sie, damit sie nicht weiter über seine Gefühle redete! Er wollte sich nicht ändern. Er wollte ein Monster bleiben. Er hatte das Recht dazu, er selbst zu sein! Dem stand die Pflicht, sich für die Gesellschaft zu ändern, entgegen. Dorian hatte Pflichten noch nie gemocht. Er war ein Rebell.
Deshalb verließ er das Zimmer und setzte sich auf eine Bank auf dem Pausenhof. Sie hatten zu lange über Gefühle geredet. Er hasste Gefühle, weil sie ihn schwach machten, und wenn er schwach wurde, verlor er die Kontrolle über sich, und wenn er die Kontrolle verlor, verwandelte er sich und wurde verachtet. Also war es sicherer, nie über Gefühle zu reden.
Frau Wim setzte sich neben ihn und sagte nichts, bis die Stunde zu Ende war.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now