17. Die Offenbarung seines Selbst

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Der Student Dorian sog den Duft alter Bücher auf, als er die Universitätsbibliothek betrat. Die Bücher stapelten sich bis zur meterhohen Decke. Er hatte Semesterferien. Ein perfekter Zeitpunkt, das Gesetz zu recherchieren, das ihn und 1% der Bevölkerung zu einem Leben in Ausgrenzung verdammte. Er sprach nicht mit den Angestellten über sein Anliegen. Er befürchtete, sie könnten Verdacht schöpfen, wer oder was er wirklich war.
Nach einer halben Stunde hatte er einen dicken Wälzer gefunden: „Die Geschichte der Strafgesetzgebung". Im Inhaltsverzeichnis suchte er die richtige Seite und las:

Am 2. September 1851 marschierten General Gero Junaz von Syca und seine Tochter Tarja in Tilla, der Hauptstadt Acadias ein, in der Absicht, die Regierung zu stürzen. Zu der Zeit hatte der Präsident von Acadia abgedankt, und es war noch kein neuer gewählt worden. Gero nutzte das Machtvakuum aus. Er erschuf mit seiner Magie ein Heer von 30.000 Mann Katapulte und Schwerter. Tarja jagte alles mit blauen Strahlen aus ihren Händen in die Luft. Die Stadt wurde zu einem Drittel zerstört, die Zahl der Todesopfer beträgt 116. Die Magierin Elea Kamari tötete Gero und verwandelte Tarja in eine steinerne Statue, als die sie bis zum heutigen Tage die Innenstadt Tilla ziert.
Aus Angst vor weiteren Anschlägen durch magisch begabte Personen wurde daher am 18.10.1851 das sogenannte Tarja-Edikt erlassen.

An der Seite stand in einem Textfeld:

Info: 80% aller Magier leiden an mindestens einer psychischen Krankheit, 40% haben eine schwere geistige oder körperliche Beeinträchtigung.

Über dem Textfeld war eine Zeichnung der Statue abgebildet.
„Du bist schuld an meinem Leiden", sagte er zu ihr und las weiter. Im Folgenden war das Edikt abgedruckt:

Gesetz zur Einschränkung von Magie und ihren Auswirkungen (volkstümlich „Tarja-Edikt"):
§1 Als magisch gelten alle Fähigkeiten, die mit einem zuverlässigen Messgerät als ein- oder zweistellige Werte gemessen werden sowie die Natur, den eigenen Körper oder andere Menschen auf übernatürliche Weise beeinflussen und verändern können. Sollte das magische Potenzial des Täters über 15 Einheiten liegen, gilt er als schwerbehindert und begrenzt schuldfähig, weshalb als Alternative zur Freiheitsstrafe die Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie angeordnet werden kann.
§1.1 Öffentlich magische Kräfte außerhalb zugelassener Zirkusse vorzuführen ist eine Ordnungswidrigkeit und wird mit einer Geldstrafe von 1.000 Silberstücken bestraft.
§1.2 Mittels magischer Kräfte bewegliche und unbewegliche Gegenstände zu beschädigen wird mit einer Geldstrafe von 5.000 Silberstücken bestraft.
§2 Magische Kräfte zur Manipulation anderer außerhalb zugelassener Zirkusse und ohne Einverständnis anderer einzusetzen ist eine Straftat und wird mit Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
§3 Der Einsatz magischer Kräfte zur Körperverletzung wird mit Freiheitsstrafe von bis zu 4 Jahren bestraft.
§4 Die Nutzung magischer Kräfte im Krieg ist völkerrechtswidrig und wird mit Freiheitsstrafe von bis zu 6 Jahren bestraft.
§5 Die versehentliche oder vorsätzliche Tötung eines Menschen durch Magie wird mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft.
§6 Die vorsätzliche Tötung mehrerer Menschen durch Magie wird mit der Todesstrafe durch Enthauptung geahndet.

Er kannte das Gesetz aus der Schule. Trotzdem erschreckte ihn jedes Mal aufs Neue die Länge der Gefängnisstrafen. Normale Menschen, die eine Straftat begingen, saßen die Hälfte der Zeit ab. Er schrieb das Gesetz ab und hängte es sich zuhause an die Wand, zur Warnung an sich selbst.

Die Warnung war wohl zu laut gewesen. Seit dem Raubüberfall waren elf Jahre vergangen. Trotzdem wachte Dorian in der nächsten Nacht mit rasendem Herzen auf. Er hatte geträumt, dass er sich vor einem Räuber verwandelte und dieser ihn dann an die Polizei verpetzte. Daraufhin steckte man ihn in ein Irrenhaus, wo seine Psyche detailliert analysiert wurde. Für Dorian war eine Therapie bedrohlich, denn er wollte niemanden in sich haben, nicht einmal das Monster, das zu ihm gehörte und dann auch wieder nicht. Es ging nur ihn selbst etwas an, was auf dem heißen Boden seines Unbewussten brodelte.
Dorian hatte während des Studiums keine Therapie angefangen. Rächte das Schicksal sich nun an ihm? Wollte es ihn für immer mit dem Brandmal eines Verrückten sehen? Er dachte an seinen Vater, dessen Bein nie ganz geheilt war. Seinetwegen. Herold war auf den Gehstock angewiesen und konnte keine langen Strecken mehr gehen.
Sieben Jahre lang hatte er studiert und war reifer geworden. Die Verwandlungen würden nie ganz aufhören, sie plagten ihn immer noch heimlich, wenn jemand oder etwas ihn ärgerte. Doch wenn ihm vor anderen Krallen wuchsen, grub er diese heimlich in seinen anderen Arm. Der Schmerz lenkte ihn ab und stoppte eine Verwandlung unverzüglich in ihren Anfängen. Schon als Kind hatte er gelernt, dass Schmerz nur durch Schmerz getötet werden konnte. Die Krallen hatten über die sieben Jahre seines Studiums kreisrunde Narben in seinem Arm hinterlassen. Sollte ihn je einer danach fragen, würde er sagen, sein Großvater hätte dort immer seine Zigarren ausgedrückt. Dorian hatte ihn nie gekannt, doch Herold hatte ihn als aggressiv beschrieben. Er war genau wie ich. Oder wie man mir sagt, dass ich bin. Apathisch und unhöflich.

Ein Mann, ein MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt