25. Eigene Wege

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„Sollen wir hier campieren? Ist noch etwa eine Stunde lang hell", bemerkte sie.
Jetzt oder nie. Die Stunde des Abschieds war gekommen. Er wusste, es würde ihr nicht gefallen. Darum graute es ihm vor diesem Schritt. Der zurückverwandelte Dorian nahm seinen Mut zusammen, um die schweren Worte auszusprechen:
„Tarja, ich verabschiede mich hier von dir."
„Nach all dem, was ich für dich getan habe?"
„Du hast auch einiges gegen mich getan. Ich habe dir am Anfang gesagt, ich begleite dich durch das Gebirge und danach gehe ich eigene Wege. Am besten nach – nein, ich sage dir nicht, wohin. Wenn ich mit dir gehe und du geschnappt wirst, verdächtigen mich die Leute, kriminell zu sein. Ich bin das nicht, Tarja. Ich war ein guter Mensch, bis ich dich traf."
„Ich dachte, du warst ein Monster. Das ist doch angeboren."
„Meine Kraft entspricht mir nicht. Als Mensch wird man geboren, zum Monster wird man geformt. Versteh das bitte. Ich kann nicht mehr mit dir gehen. Ich kann nicht auch noch deine Last tragen, wenn ich selbst unter meiner eigenen zusammenbreche. Ich habe noch eine Chance, du nicht. Ich danke dir für deine Hilfe, aber ich muss meinen Weg allein fortsetzen."
Er hatte kein Wort direkt in ihre blauen Augen gesprochen. Darin lag so viel Angst. Er verstand sie besser als jeder andere Mensch, doch er war besser ohne sie dran. Darum kehrte er auf dem Absatz um und marschierte in die Stadt.

Tarja folgte ihm. Er fluchte innerlich, als er ihre Schritte hinter sich hörte.
„Gehst du in die Hauptstadt? Dort gibt es viele Jobs. Das ist auch mein Ziel. Da leben zwar die meisten Menschen, aber manchmal ist das auffälligste Versteck das beste." Wie hatte sie ihn so schnell durchschaut? Er hasste Menschen, die mithilfe von Empathie Gedanken lesen konnten!
„Bitte lass mich in Ruhe."
„Wir brauchen einander, Adis. In dieser Welt müssen die Randgruppen sich gegenseitig tragen."
„Ich kann dich nicht mittragen!", antwortete er fast schreiend. Die Energie, die er zum Verwandeln brauchte, reichte noch nicht aus. Er musste sie noch wütender machen, damit er geschwächt von Hunger, Kälte und Müdigkeit die Flucht antreten konnte. Sie würde ihm folgen. Und ihn einholen. Er konnte nur hoffen, dass ihre Kraft langsam ermüdete, schließlich hatte sie sie heute schon mehrfach benutzt.
Tarja ging in sich. Entweder hatte er einen momentanen Gefühlsausbruch oder er meinte es wirklich ernst. Es war beides, gestand sie sich ein. Seine Augen leuchteten rot vor hilfloser Wut.
„Zwing mich nicht, meine Kraft gegen dich einzusetzen!", drohte er mit zitternder Stimme. Aller Widerwille der Welt lag darin. Der Sturm, der bisher nur Wind gegen die beiden eingesetzt hatte, konterte nun mit einem Schneeschauer. Die Flocken schlugen hart gegen ihre Wangen und bedeckten Tarjas falsche Brille.
„Das machst du nicht", konterte sie. „Du sagst selbst, du bist nicht so einer."
„Ich habe Angst vor dir, Tarja! Und wenn ich Angst habe, passiert das hier!" Er verwandelte sich. Nun war er gegen jede Kälte immun. „Ich wollte nicht auf diese Weise gehen. Ich danke dir für alles, aber ich muss dich verlassen. Auf Nimmerwiedersehen!"

Er rannte den Abhang hinunter, geriet ins Rutschen, prallte gegen einen Baum, der dadurch Schnee und Nadeln verlor. Als er an den Rand des Dorfes kam, warf er einen kurzen Blick über die Schulter. Sie folgte ihm nicht. Vielleicht war sie eingeschnappt.
Das Problem war nur: Er brauchte ein Zimmer für die Nacht und sah nicht aus wie ein Mensch. Er kroch durch enge Seitengassen, versteckte sich vor einem Passanten mit Hund hinter einer Mülltonne. Das Dorf war malerisch, trotz der schweren Schneedecke wie geschaffen für Urlaub.
In einer Sackgasse hinter einem Container erzwang er eine Rückverwandlung. Er stand direkt im Hinterhof eines Hotels. Die Angst, von Tarja verfolgt zu werden, saß ihm noch im Nacken. Sollte er ins nächste Dorf gehen? Vielleicht war es zu weit für heute. Er hatte immerhin die Hälfte des Gebirges überwunden. In Hotels gab es Schlösser. Für Tarja kein Hindernis. Sie respektierte keine Schlösser und generell nichts, das sie aufhielt.
Er riskierte es. An der Rezeption sagte er:
„Haben Sie noch ein Zimmer? Ich bin Maler und suche hier schöne Motive." Er versuchte, möglichst ruhig zu klingen.
„Wir haben bei dem Sturm keine Gäste", antwortete die Frau. „Sie haben Glück im Unglück."
„Der Sturm hat mich überrascht. Ich habe völlig vergessen, mich über das Wetter zu informieren." Während sie ihm den Schlüssel reichte, plauderten sie belanglos über das Wetter.
Dann schloss er sich in seinem Zimmer ein und sank aufs Bett. Der Sturm peitschte gegen das Fenster. Er pfiff durch die Ritzen. Dorian war in Sicherheit.

Erst neben der neumodischen Gasheizung bemerkte er, wie durchgefroren er war. Von Acadia war er trockenes, warmes Klima gewohnt, es schneite selten. Er zitterte den ganzen Abend lang, schlotterte im Schlaf, um am nächsten Morgen mit Fieber zu erwachen. Die Berge hatten ihm das Leben geschenkt und ihm dafür die Gesundheit genommen.
Es tat gut, von innen heraus gewärmt zu werden, auch wenn er dabei ein ganzes Laken durchschwitzte. Er brauchte die Erholung, die die Erkältung mit sich brachte. Endlich kämpfte er nicht mehr um sein Leben. Das Alarmsystem wurde heruntergefahren. Es bestand keine Gefahr der Verwandlung mehr. In ihm herrschte Frieden.
Jedoch zuckte er bei jedem Klopfgeräusch zusammen. Es war meistens nur der Zimmerservice, der ihm eine warme Suppe spendierte. Dorian kontrollierte permanent die Straße. Keine Spur von Tarja. Noch war der Stress nicht vorbei, warnte er sich.
Zum Zeitvertreib holte er seinen Notizblock heraus und machte Zeichnungen, um die Illusion des reisenden Malers vor den Hoteliers aufrecht zu erhalten. Eigentlich ging es sie nichts an, was er hier tat, aber er hielt es für besser, keine offenen Fragen zu provozieren.

Nach einigen Tagen war der Infekt überstanden. Er hatte sich Ski ausgeliehen und ein paar Mußestunden auf einem kleineren Berg verbracht. Ihm kam es falsch vor, sich zu amüsieren, während er auf der Flucht vor dem Gesetz war. Er glaubte nicht, dass Tarja einen Polizisten verletzt hatte, schließlich hatte sie nur die Kugeln abgefangen. Somit lag kein Straftatbestand vor, bis auf Unterstützung beim versuchten illegalen Überqueren der Grenze. Tarja hatte alle Straftaten begangen, die Dorians Gewissen ihm vorwarf! Mein Gewissen ist rein. Ich habe das Recht, glücklich zu sein!
Tarja hatte er nicht mehr gesehen. Hoffentlich ist sie dahin gegangen, wo der Pfeffer wächst.
Er packte seine Sachen und verließ das Hotel. Bis zur Hauptstadt Mora brauchte er fünf Tage. Er sollte unterwegs ein Taxi organisieren.
Das Wetter hatte sich wieder beruhigt. Meisen trällerten ein fröhliches Lied. Er hatte das Dorf fast verlassen, als eine alte Frau nach ihm rief:
„Junger Mann! Kommen Sie mal bitte zu mir?" Er zuckte zusammen. Sie hatte ihn doch nicht wiedererkannt?
„Darf ich Sie um einen kurzen Gefallen bitten?", fragte die Oma.
„Klar."
„Würden Sie bei mir den Schnee schippen? Ich bezahle auch. Ich bin nicht mehr gut zu Fuß, und Schneeräumen ist Pflicht."
„Okay." Nach zehn Minuten waren alle Wege ihres Grundstücks freigeräumt. Die Frau ging am Rollator in ein altmodisch eingerichtetes Zimmer und gab ihm genug Geld, um sich ein großes Mittagessen zu gönnen.
„Sie sind so ein netter Bursche. Haben Sie eine gute Reise!"

Das Kompliment der Fremden hatte ihm gutgetan. Aber es hatte alte Wunden aufgerissen. Die Mentoren seines Referendariats hatten ihn gelobt, um ihn am nächsten Tag zu demütigen. War er nur an die falschen Leute geraten oder hatten sie Recht? Dann würde auch alles zutreffen, was Zen je Negatives über ihn gesagt hatte. Ein Monster kann etwas anderes sein als ein Monster, hatte Dorian bisher geglaubt.
„Du bist kein Monster, also verhalte dich auch nicht so", hatte seine Mutter gesagt. Dabei war sein Schicksal als Versager schon festgeschrieben. Mein Traum war zu groß für mich. Vielleicht sollte ich die Reise in die Arbeitswelt aufgeben und gleich zum Zirkus gehen. Konnte er die Zukunft ändern? Seine Therapeutin hatte ihm einmal gesagt:
„Man kann die Vergangenheit ändern, je nachdem, wie man sie auslegt. Bei einer Mutter mit derart hohen Forderungen kann man nur impulsiv werden. Sie hat dir nie beigebracht, deine Gefühle zu benutzen. Sie durften schlichtweg nicht sein. Aber sie haben das Recht zu existieren, genau wie du." Die Vergangenheit war festgeschrieben, hatte er bisher gedacht. Aber wenn man seine Sichtweise auf sie änderte, schimmerte sie in anderen Farben. So ähnlich musste es auch mit der Zukunft sein. Das letzte Wort über ihn war noch nicht gesprochen. Guten Mutes setzte er seinen Weg fort.

In Mora herrschte viel Trubel. Dorian mochte keine Menschenmengen. Er kam vom Dorf und war sie nicht gewohnt. Es ängstigte ihn, ständig unabsichtlich berührt oder weggestoßen zu werden.
Ein Soldat zog an ihm vorbei. Er trug grüne Tarnkleidung und einen schweren Rucksack, war auf dem Weg in den Wochenendausgang. Das wär's. Zur Armee gehen. Die Leute respektieren mich und ich kann meine körperliche Stärke für das Gute einsetzen. Vielleicht ist es dort sogar von Vorteil, ein Monster zu sein?
Damit war für ihn klar, was er zu tun hatte: Er meldete sich in einer Kaserne an und durfte sogleich einziehen. Seine erste Amtshandlung war ein Brief an seine Eltern:

Liebe Mama, lieber Papa,
ich bin Soldat in Syca geworden. Aus dem Referendariat wurde ich wegen meiner Besonderheit entlassen. Es tut mir Leid. Ich habe alles gegeben und es war trotzdem nicht gut genug. Es geht mir jetzt besser. Bitte macht euch keine Sorgen. Sobald ich die Grundausbildung beendet habe, gehe ich auf meinen ersten Einsatz. Falls ihr euch an die Reise zu Fatah erinnert, wisst ihr, dass ich auf mich aufpassen und mich im Ernstfall verteidigen kann.
Mit besten Wünschen,
Dorian.


Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now