8. Sorgloser Sommer

4 0 0
                                    

Am letzten Schultag hatte er auch seine letzte Therapiestunde für immer. Dorian berichtete:
„Und dann hat Zen mich gezwungen, ihm meine Jacke zu leihen, ihm sei so kalt. Heute ist der letzte Schultag und er hat sie mir immer noch nicht zurückgegeben. Ich traue mich nicht, ihn darum zu bitten."
„Warum?"
„Ich habe Angst vor ihm."
„Warum?"
„Weil er stärker ist als ich. Und meine andere Form darf ich nicht einsetzen. Selbst wenn ich es tue, habe ich Angst, ihn zu verletzen wie damals in der ersten Klasse. Ich weiß nicht, wie stark ich bin. Und ich kann es nicht herausfinden, denn wenn ich es tue, gehen Dinge kaputt."
„Und wenn du ihn einfach selbstbewusst darum bittest? Sag: Zen, gib mir bitte meine Jacke zurück."
„Dann wird er fragen, warum. Und ich kann nicht sagen, dass ich sie brauche, denn jetzt ist es zu heiß, um überhaupt eine Jacke zu tragen."
„Ist dir bewusst, dass du sehr wenig Selbstbewusstsein hast?"
„Ich brauche kein Selbstbewusstsein. Ich brauche nur Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Ich will überleben, nicht mich selbst verwirklichen."
„Warum nicht?"
„Weil ich Angst davor habe, dass ich böse bin." Jede Therapiesitzung drehte sich im Kreis. Dorian sah die Notwendigkeit ein, dass er Selbstbewusstsein erwerben sollte, jedoch fruchtete bei ihm keine der vorgeschlagenen Methoden. Einfach zu Zen zu gehen und ihm Befehle zu erteilen erschien ihm zu unsicher. Jederzeit könnte er ihn so heftig verprügeln, dass seine eigenen Eltern ihn nicht wiedererkennen würden. Und überhaupt: Warum musste Dorian sich ändern und nicht Zen? Zen war der Täter! Er verdiente es, zur Therapie gezwungen zu werden! Er hatte Probleme, die er an anderen ausließ! Dorian blieb wenigstens für sich und nervte niemanden mit seiner Unausstehlichkeit! Menschen, die in Therapie gingen, taten dies aufgrund anderer Menschen, die nicht in Therapie gegangen waren. Alle forderten ihn auf, sich zu ändern, weil er gemobbt wurde – das machte ihn so aggressiv, dass es fast wieder das Monster erweckte. Es bestehe ein Konflikt mit Zen – Dorian sah keinen Konflikt. Die Gewalt hatte ein Ausmaß erreicht, das kein Konflikt mehr war. Es war ein Krieg. Zen hatte alle Waffen und Dorian keine. Er hoffte nur, dass Zen auf eine andere Schule als er wechseln würde.
Eigentlich bewunderte er seinen Mobber. Er hatte das Selbstbewusstsein, schnell Freunde zu gewinnen. Er ging auf sie zu, ohne Angst, verurteilt zu werden, denn er kam ihnen zuvor, indem er zuerst verurteilte. Doch Täter zu werden war für Dorian keine Option. Er hatte nicht den Charakter dazu, wollte nicht das Monster werden, das sie erwarteten!

„Dorian hat kleine Fortschritte gemacht", hatte Frau Wim den Eltern nach der Sitzung erklärt. „Ganz verschwinden wird das Monster nie. Es ist eine Störung seiner Emotionsverarbeitung. Er kann lernen, damit zu leben. Ich gehe in den Ruhestand. Ich kann die Therapie nicht weiterführen. Dorian muss nun lernen, selbstständig die Fähigkeiten umzusetzen, die ich ihm beigebracht habe."
„Sie verlassen ihn einfach, jetzt, wo er Sie braucht!", herrschte Mina sie an.
„Er braucht mich nicht. Er wollte nie zur Therapie. Er kam nur, weil man ihn gezwungen hatte. Er hat ein starkes Autonomiebedürfnis. Wenn ihm alle immer sagen, was er zu tun hat, wird er nie die Selbstständigkeit erlangen, die er sich wünscht und braucht."
„Er braucht Therapie, er hat schließlich eine Störung, wie Sie selbst sagen!" Mina wich von dieser Meinung nicht ab. „Gibt es hier noch andere Therapeuten?"
„Sie können ihn natürlich immer zu einer weiteren Therapie bringen. Vielleicht hat ein anderer Ansatz mehr Erfolg bei ihm."
„Sie geben also auf?"
„Ich habe alles getan, was ich konnte. Das ist kein Aufgeben. Und ich möchte Sie bitten, sich auf Dorians Fortschritte zu konzentrieren: Er weiß jetzt, wie seine Verwandlungen ausgelöst werden und wie er sie hinauszögern kann. Wenn ihn im Unterricht etwas aufregt, wartet er bis zur Pause, geht auf die Toilette und verwandelt sich dort. Nur weil seine Fortschritte nicht deutlich sichtbar sind, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Vergleichen Sie ihn nicht mit anderen, die mehr können. Menschen sind unterschiedlich. Erwarten Sie nichts von ihm, was über seine Grenzen hinausgeht."
„Er ist immer noch ein impulsives Kind. Und wenn ihn jemand direkt provoziert, wird er sofort zum Monster! Das merke ich ja zuhause! Wenn er weiterhin dieses Ding rauslässt, wird er es im Leben nie zu etwas bringen!" Frau Wim war versucht zu sagen: Das Monster sind Sie. Er ist nicht gut genug für Sie. Und wenn Sie Ihre Ansprüche nicht herunterschrauben, wird er nie gut genug sein. Auf ihrem Abschlussbericht stand deshalb etwas von „familiärer Interaktionsstörung". Dorian würde den Bericht erst viel später sehen. Er war erleichtert. Als er im Wartezimmer einen Comic las und auf seine Eltern wartete, dachte er an die glückliche Zeit, die vor ihm liegen würde: Kein Zen. Keine Ausgrenzung. Keine Therapie. Jetzt bin ich 12. Nur noch 6 Jahre bis zum Abschluss! Vielleicht finde ich sogar Freunde an der neuen Schule.

Ein Mann, ein Monsterحيث تعيش القصص. اكتشف الآن