24. Die Charakterprüfung

2 0 0
                                    

„In der Not zeigt sich, wer du bist, und, wer du werden kannst", sagte Tarja bei ihrem kargen Frühstück. Damit war das letzte Brot aufgegessen. Dorian hoffte, dass sie bald auf die angekündigten Schneehasen treffen würden.
Die Sonne ging gerade auf, als sie die Hütte verließen. Sie hatten einige Zweige als Brennholz gesammelt und sich die Holzbretter unter die Schuhe gebunden. Führte der Weg bergab, war es fast wie Skifahren, doch beim Aufstieg nützten sie nichts. Also kämpften sie sich durch knietiefen Schnee über den nächsten Bergkamm. Vor ihnen erstreckte sich unberührtes Niemandsland, geschmückt von einem eisblauen See in der Mitte. Einige neugierige Felsen streckten die Köpfe aus der weißen Decke. Das Morgenrot bestrahlte die bauschigen Wolken rosa.
„Wie kann etwas so Wunderschönes so gefährlich sein?", seufzte Dorian.
„Warst du noch nie in den Bergen?"
„Ich bin nie so hoch gegangen. Die Luft ist ziemlich dünn, mir wird schwindlig."
„Das geht vorbei. Der Mensch gewöhnt sich an alles." Nachdem sie den halb zugefrorenen See umrundet hatten, führte der Weg bergab. Der Schnee hatte an einigen Stellen lange Risse bekommen, die wie Falten aussahen. Ein Haufen weißer Brocken stapelte sich an einer Felswand.
„Hier ist eine Lawine heruntergekommen. Außerdem gibt es Gletscherspalten. Tritt nie zu nah an die Risse und geh nicht am Rand", riet Tarja ihm.
Sie erschlossen neue Wege. Sie kletterten, fuhren mit den Holzbrettern bergab. Wie das Leben war das Gebirge ein Auf und Ab.

Über dem nächsten Tal kreiste ein Adler.
„Endlich was zu essen!", sagte Tarja und schoss einen Feuerstrahl auf ihn. Er fiel kopflos und verkohlt hinab. Sogleich ärgerte sie sich über sich selbst: „Oh nein, ich habe die Hälfte weggesprengt!"
„So ein dickes Ding schaffen wir sowieso nicht." Dorian stürzte hungrig zu ihm hinab.
„Geh nicht zu nah am Berg, bei der dicken Schneeschicht ist eine Lawine sehr wahrscheinlich."
„Aber in der Mitte sind Gletscherspalten."
Sie ging dicht hinter ihm. Sie hatte ein mulmiges Gefühl bei der Masse, die fragil über ihnen lauerte. Sie hatte den Schnee bereits knirschen hören. Aber sie brauchten den Vogel, denn sonst würden sie das für die Übernachtung geplante Iglu hungrig aufbauen müssen.
„Adis, lauf!", schrie Tarja plötzlich. „Sie kommt!" Kleine Eisbrocken kullerten den Abhang hinunter, direkt vor seine Füße. Und sogleich machte sich der Rest der schweren Masse auf den Weg.
Dorian war wie eingefroren. Er spürte seine Füße kaum und wusste nicht, wie er möglichst schnell von der Stelle wegkam. Die Kälte und Müdigkeit forderten ihren Tribut. Um zu überleben, verbrannte sein Körper magische Energie. Eine Verwandlung war nicht möglich. Er lief, so schnell er konnte. Tarja blieb stehen.
„Nicht weitergehen!" Die Lawine hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt. Tarja erinnerte sich an die Gletschermühle und aktivierte ihre Kraft. „Halt dir die Ohren zu, es wird gleich laut!" Die Explosion brachte seine Trommelfelle dem Platzen nahe. Ein Knall wie tausend Feuerwerkskörper schien den Schnee anzuzünden. Er pulverisierte die Masse und schob sie den Berg hinauf, bis sie an der anderen Seite hinabstürzte. Eine bergauf gehende Lawine! Dorian traute seinen Augen nicht. Allein der Rückstoß der Explosion hatte ausgereicht, um sie zu einem harmlosen Schneeregen zu machen. Er hatte auch Tarja ein paar Meter zurück geschleudert.
Danach klopfte sie sich Mantel und Hände ab.
„Meine Kraft desintegriert Partikel, und das erzeugt eine Druckwelle, die sich als Explosion äußert." Kleinere Schneefetzen landeten auf ihnen. Es folgten größere Brocken, die nicht wehtaten.
„Wahnsinn", staunte Dorian, als er eingeschneit wurde. Er musste seine Meinung über Tarja überprüfen. Sie hatte ihm gerade das Leben gerettet, allerdings hatte sie ihn fast dessen beraubt. Sie hatte nur die Suppe ausgelöffelt, die sie selbst eingebrockt hatte. Er blieb dabei: Nach gemeinsamer Überwindung dieses menschenfeindlichen Gebirges würde er sie verlassen. Er grollte ihr, sodass eine Verwandlung zwecks schneller Flucht einfach werden würde.
Tarja schnappte sich den Vogel und zündete das gesammelte Brennholz an. Dorian setzte sich auf seinen Rucksack und rupfte den Vogel. Es war kein Adler, sondern etwas Kleineres. Ihm war es egal. Er hatte zu großen Hunger, um Mitleid für ihn zu empfinden.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now