20. Flucht mit Altlasten

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Tarja schlief auf dem Boden seines Zimmers. Dorian verband im Mondlicht seine Wunde. Sie hatte aufgehört zu bluten. Er hatte Angst vor dieser Frau. Ihre direkte, laute und manchmal gehässige Art erinnerte ihn an Zen. Er glaubte, dass sie aufrichtig war, all diese Leute nur getötet hatte, weil ihr Vater sie dazu gedrängt hatte. So stand es in den Geschichtsbüchern, die er in seinem Studium gelesen hatte. In einem dieser Bücher hieß es, wenn Tarja heute vor Gericht stünde und sehr viel Glück hätte, würde man ihr 30 Jahre Haft verhängen. Es galten mindernde Umstände wegen ihrer Magie. Das Urteil lautete daher nicht Mord, sondern Totschlag und Beihilfe zum Mord, weil ihr Vater alles geplant hatte. Im Grunde war sie ein Jahr länger versteinert gewesen, als sie an Strafe bekommen hätte. Sie hatte ihre Strafe bereits abgesessen! Der Gerechtigkeit war Genüge getan worden. Und darum beschloss Dorian, ihr doch zu helfen. Sie waren Ausgestoßene, und wenn sie sich nicht halfen, wer dann?

Er schlief, als sie erwachte. Sie stellte sich vor den Spiegel. Sie sah aus, wie sie sich eine gefallene Kriegerin vorgestellt hatte: Schürfwunden bedeckten ihre Hände von außen, die Innenseite war mit rissiger Hornhaut überzogen, die sie seit Jahren kannte. Sie hatte einen blauen Fleck auf ihrer Wange. Ihre Knochen schmerzten. Es war elf Uhr morgens. Versteinert zu sein war nicht mit Schlaf zu vergleichen, eher mit dem Tod. Sie war 31 Jahre lang tot gewesen, und die Auferstehung hatte sie angestrengt.
Zeit zu leben. Sie fand eine Schere auf seinem Schreibtisch und schnitt sich die Haare bis über die Schultern ab. Einen Pony noch dazu. Damit wirkte sie gleich fünf Jahre jünger. Sie brauchte Haarfärbemittel. Und Make-Up. Dorian hatte natürlich keins. Sie würde einkaufen gehen müssen. Sie hatte Geld bei sich, doch das Prägejahr war 1846. Mittlerweile dürften die Münzen und Scheine nicht mehr gültig sein. Sie beschloss, sich eine Kapuze von Dorians Pullover überzuziehen und es in einer Bank umzutauschen. Sie hatte nicht besonders große Angst, entdeckt zu werden. Ja, sie war berühmt, doch niemand erwartete, sie hier lebend zu sehen. Und die Leute sahen nur, was sie sehen wollten.

Der Geldwechsel und Einkauf in der Drogerie verliefen problemlos. Ein älterer Mann hatte sie etwas länger angestarrt, da hatte sie bemerkt, dass er sich auf ihre Brüste fokussiert hatte. Widerlich. Dann war sie in ein Bekleidungsgeschäft gegangen und hatte ihr letztes Geld für einen Wintermantel ausgegeben.
Dorian war erwacht, als sie zurückkehrte:
„Du bist ja immer noch da."
„Du auch", sagte sie. „Ich färbe mir gleich die Haare. Ich habe auch diese Brille mit Fensterglas gekauft, Make-Up und einen Wintermantel. Jetzt kann nichts mehr schief gehen." Tarja hatte ausgerechnet schwarze Haarfarbe gewählt. Sie sah aus wie Dorians jüngere Schwester. Er empfand es als übergriffig. Sie macht es nicht absichtlich, sagte er sich. Sie will sich nur anpassen. Ich würde dasselbe tun.
„Ich habe mich übrigens entschieden, mit dir zu fliehen."
„Ich wusste, dass du das sagen würdest. Du bist von mir fasziniert."
„Ich hatte nicht vor, dein Ego zu vergrößern! Ich gehe nur mit, weil es nützlich ist und weil ein Mensch allein häufiger von Räubern angegriffen und getötet wird."
„Ist es okay für dich, nach Syca zu gehen? Dort können uns Freunde oder Verwandte von mir aufnehmen."
„Ich wollte zuerst meine Cousine in Quoia besuchen."
„Warum?"
„Ich habe sonst niemanden, zu dem ich gehen kann." Luy wohnte auch in Quoia, doch er durfte keine Untermieter aufnehmen. Im Grunde hatte Tarja Recht. Was wollte er dort? Dorian war frei, sein Ziel selbst zu wählen. Denn überall war es besser als hier in Hochacadia.
„In Syca kennt mich niemand. Du allerdings dürftest bekannt sein wie ein bunter Hund. Deine Heimat distanziert sich von dir und entschuldigt sich an allen Gedenktagen für seine Verbrechen."
Er hatte einen wunden Punkt getroffen. Sie liebte ihre Heimat, aber die Heimat liebte sie nicht mehr. Andererseits war sie heute eine andere. Jahre veränderten Menschen. Sie war nicht tot gewesen. Sie war ein Küken, das den Stein wie eine Schale durchbrochen hatte. Das Küken brauchte noch einen Namen. Und eine Heimat. Dass diese sie nun als Gefahr sahen, tat ihr weh:
„Alter, ich weiß, was ich getan habe, du musst nicht ständig darauf hinweisen." Sie zog Dorians Pullover aus und gab sie ihm zurück. „Bitte sehr. Damit du mir nicht auch noch Diebstahl anhängst."
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten." Sie war noch nicht bereit, über den Krieg zu reden. Es interessierte ihn brennend (wie alle geschichtlichen Themen), aber er würde warten, bis sie selbst davon anfing. Er respektierte sie und wunderte sich darüber. Wer respektierte schon einen Mörder?

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now