34. Der Weg in die Freiheit

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Dieselbe Reporterin, die Dorian über Mortimer ausgefragt hatte, erschien im Besuchszimmer. Sie erfragte seine Meinung zu dem Urteil:
„Das hat nichts mit Ihnen speziell zu tun, das frage ich alle Zeugen." Er erzählte ihr dasselbe wie der Therapeutin:
„Es war nicht gut, mich ihr damals anzuschließen, aber ich habe einiges von ihr gelernt. Dass man auch dann weiterleben kann, wenn absolut keine Hoffnung mehr auf Besserung besteht. Dass das Leben trotzdem weitergeht. Teils bin ich dankbar für das Urteil, teils bin ich noch zu aufgewühlt, um zu definieren, wie ich es empfinde."
„Hatten Sie eine gute Beziehung zu Tarja?"
„Eine zwiespältige. Sie war Freundin und Feindin zugleich. Vielleicht fühle ich mich wegen meiner Vergangenheit zu ihrer Sorte Mensch hingezogen. Meinen Mobber in der Schule habe ich bewundert und gleichzeitig mein Leben lang gehasst. Er war charismatisch und hat sein Charisma missbraucht. Ähnlich wie Tarja." Die Identifikation mit dem Täter – laut seiner Therapeutin kam das gar nicht so selten vor, da es manchmal der einzige Weg zum Überleben war.
„Gewalt ist größer als wir, deshalb macht sie den Täter mächtig. Und deshalb sollte sie auch nicht die Antwort auf alles sein. Eine Gesellschaft von Übermenschen wird stolz und stürzt dann tief in den Abgrund."
„Was möchten Sie den Lesern mitteilen?", fragte die Reporterin dann.
„Kein Mensch hat nur negative Eigenschaften. Ich bin dankbar, dass ich Tarja begegnet bin, auch wenn sie mich letztendlich in die Psychiatrie geführt hat. Vielleicht ist es das Beste für mich. Behaltet Tarja nicht nur als warnendes Beispiel in Erinnerung. Sie war eine starke Seele, die leben wollte. Und die Politiker bitte ich, ihre Entscheidung mit den Opioiden noch einmal zu überdenken. Wir sind Menschen, wir haben auch Gefühle. Wenn wir ausgegrenzt werden, macht uns das nur aggressiver. Integriert uns. Wir gehören auch in diese Gesellschaft. Wir können uns anpassen, wir versuchen täglich unser Bestes. Aber dazu müssen wir uns mehr anstrengen als alle anderen."
„Was das neue Gesetz für straffällig gewordene Magier angeht, möchte ich Sie beruhigen. Es steht noch keine Entscheidung fest. Sie sind mit Ihrer Meinung nämlich nicht alleine. Es gibt eine große Protestbewegung, die die Lockerung der Gesetze und Abschaffung der Todesstrafe für Magier fordert. Es ist nämlich nicht gerecht, dass Mörder ohne paranormale Begabung mit einer lebenslänglichen Haft davonkommen."
„Sagen Sie dieser Protestbewegung, dass sie sich auf mich verlassen kann. Ich unterstütze sie von hier aus."
„Schön gesagt. Danke für Ihre Zeit."
„Gern geschehen. Zeit habe ich genug. Wo soll ich schon hingehen?", lachte er. Es war das erste Mal, dass er nach Tarjas Tod glücklich war.

Monate vergingen, ohne dass das Gesetz verabschiedet wurde. Die Politik änderte rein gar nichts an ihrem System. Das war sowohl gut als auch schlecht. Gut, weil es nicht schlimmer wurde, schlecht, weil es nicht besser wurde.
Es war Hochsommer und die Therapiesitzungen wurden in den Garten verlegt. Er war groß und gut gepflegt. Apfelbäume blühten, auf einem kleineren Baum wuchsen Kirschen. Es gab auch Birnen und Aprikosen. Man durfte jederzeit in den Garten gehen und sich einen Snack vom Baum holen. Vögel zwitscherten, Bienen summten, die Sonne lachte. Aus einem kleinen Brunnen plätscherte Wasser in einen Teich mit Zierfischen. Die Atmosphäre könnte wunderschön sein, wenn nicht diese riesige Mauer mit Stacheldraht zwischen ihnen und der Außenwelt stehen würde.
Sie hatten ihren Stuhlkreis auf der Veranda aufgestellt. Die Therapeutin wollte eine Exposition machen. Sie war Voraussetzung dafür, dass man zur Bewährungsanhörung zugelassen wurde. Sie fand einmal im Monat für jeden Insassen statt. Und heute war Dorian dran. Senar entschied sich, den Täter zu spielen. Er stellte sich in den Kreis und provozierte seinen Zimmergenossen. Dessen Aufgabe war es, gelassen und ohne Verwandlung darauf zu reagieren.
„Hey, ich bin Mortimer und werde dich vernichten! Ich bin gefährlich, grrr!" Er formte die erhobenen Hände zu Krallen und tat so, als wäre er ein Raubtier.
„Bitte nehmen Sie die Therapie ernst", mahnte die Frau, denn sogar Dorian musste darüber lachen.
„Natürlich." Senar räusperte sich und nahm eine andere Rolle ein:
„Hey, Monster. Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast."
„Und das wäre?", fragte Dorian.
„Du hast meine kleine Schwester getötet. Sie stand auf einer Leiter und pflückte Pflaumen. Eine unschuldige Seele, die ihr ganzes Leben vor sich hatte. Doch plötzlich kam ein Monster aus dem Wald, warf die Leiter um, stürzte sich auf sie und fraß ihr das Herz aus der Brust." Dorian blieb ruhig, denn er erkannte, dass es eine falsche Beschuldigung war. Senar wollte es ihm leicht machen.
„Woher willst du wissen, dass ich es war?"
„Das Monster war schwarz, zwei Meter groß, hatte rote Augen und die Ohren eines Bären. Das bist doch du, oder? In der Gegend gibt es sonst keine Magier. Und jetzt, da du weißt, was du getan hast, verlange ich Gerechtigkeit. Ich werde dich umbringen. Seele gegen Seele, auch wenn ich bezweifle, dass du überhaupt eine hast!" Er ließ Stacheln aus seiner erhobenen Hand fahren. Dorian wich einen Schritt zurück. Er wurde aus Senar nicht schlau. Erst hatte er kein Anzeichen von Ernsthaftigkeit erkennen lassen, und nun steckte er so tief in seiner Rolle, dass er die Stacheln womöglich wirklich in Dorians Herz schießen würde.
„Moment mal, du hast überhaupt keine Beweise!", wehrte dieser ab.
„Ich brauche keine Beweise!", brüllte Senar. „Du ekelhaftes Stück Scheiße! Die Welt wäre ohne dich besser dran!" Dorian wusste nicht, ob Angstschweiß seinen Rücken hinunter lief oder ob dort Pelz wuchs. Senar kam näher, bis er nicht mehr zurückweichen konnte.
„Bitte lass uns das wie vernünftige Menschen klären. Ich könnte dir Geld geben, viel Geld. Ich könnte für dich arbeiten. Deine Schwester kann ich dir nicht zurückbringen und das tut mir Leid, auch wenn es dafür keine Entschuldigung gibt. Ich danke dir, dass du mich darauf hingewiesen hast. Ich hatte mich an dem Tag gar nicht unter Kontrolle und danach einen totalen Filmriss. Ich verspreche dir, ich werde mich fortan in diesem Zustand von anderen Menschen fernhalten. Ich bin in Therapie und bekomme Medikamente. Ich war ein Monster, aber ich möchte keines mehr sein."
„Stopp!" Die Therapeutin brach die Übung ab. Senar fuhr die Stacheln wieder ein und ließ seine Hand sinken. Dorian atmete erleichtert auf.
„Das haben Sie beide sehr gut gemacht. Herr Khors, Sie haben sich für ein extremes Beispiel entschieden und dieses in angemessener Weise präsentiert." Dorian stimmte ihr zu:
„Ich dachte, er bringt mich um!"
„Herr Fenn, Sie haben die Schuld auf sich genommen, obwohl Sie es hätten abstreiten können. Das wäre auch gegangen. Aber es zeugt von Reife, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, auch wenn es fiktive Taten sind. Durch die überzeugende Todesdrohung konnte ich mir ein Bild machen, wie Sie auf Provokation reagieren. Und es war ganz anders als das, was mir der Richter beschrieben hat. Sie haben ein Friedensangebot gemacht und versucht, einen Komplettabsturz Ihres Rufs zu vermeiden, indem Sie Sühne vorgeschlagen haben. Besonders hat mir dabei die Dankbarkeit gefallen. Kurz, Sie haben sich wie ein Mensch und nicht wie ein Monster verhalten."
„Danke." Dorian und Senar setzten sich.
„Ich glaube, dass ich mich teilweise verwandelt habe, aber ohne, dass man es sieht", gab er zu.
„Das ist vollkommen in Ordnung. Es ist für Sie eine natürliche Reaktion auf eine Gefahrensituation. Immerhin hat Herr Khors überzeugend Ihre Ermordung angedroht. Solange es keiner sieht, ist es gesellschaftlich akzeptabel. Es geht mir nur darum, Ihnen die Angst vor sich selbst zu nehmen und dass Sie erkennen, wie gut Sie sich bereits unter Kontrolle haben." Er bedankte sich abermals und hörte sich weitere wertschätzende Rückmeldungen der Gruppe an. Wenn jemand nett zu ihm war und ihn akzeptierte, verwandelte er sich nie. War er zweimal an die falschen Leute geraten? Gab es eine zweite Chance für ihn?

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now