42. Selbstfluch oder -segen

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Dorian hatte vor jedem Auftritt Angst zu versagen. Eine Woche lang hatte es keinen Zwischenfall gegeben. Eigentlich sollte er vertrauen, dass er diesmal nicht rausfliegen würde. Falls seine Kraft versiegte, würde er wie Sem und Rem ein Helfer werden.
Alles war für ihn so abgelaufen wie geplant. Nur gab es kein Edelmetall mehr für ihn zu bearbeiten. Aura war so depressiv geworden, dass sie nicht mehr aus dem Bett kam. Sie schlief nur noch und sprach nichts mehr. Sie erinnerte ihn an Fatah. Er musste ihr unbedingt wieder einen Brief schreiben. Genau wie sie während einer stummen Phase war Aura zu nichts zu gebrauchen. Ihr Zustand hatte sich schleichend verschlechtert: Ihr Silber war zu Kupfer und das Kupfer zu Blei geworden, schwer, wie sie sich fühlte. Sie dachte sogar an Selbstmord, aber niemand wusste es. Niemand durfte es wissen.

In seiner freien Zeit saß Dorian oft auf dem Treppchen neben Serenas Aquarium. Sie hatte ihn gebeten, ihr Bücher zu besorgen, und dabei hatte er festgestellt, dass sie dasselbe Genre mochten.
„Ich dachte, ich wäre der einzige, der so blutige Krimis liest", sagte er bei der Übergabe. Er legte die Bücher auf dem Podest ab und setzte sich dann zu ihr, während sie am Beckenrand mit ausgebreiteten Armen lehnte.
„Was ein Mensch mag, sagt nichts über seinen Charakter aus", entgegnete sie.
„Das Äußere ebenso wenig." Er mochte Serena, da ihre Kraft ebenfalls ihren Körper veränderte. Sie war wie er, nur unter Wasser.
„Ach ja, das Äußere! Seit ich verflucht wurde, habe ich mich hässlich gefunden. Die Zuschauer sagen mir, dass ich wunderschön bin, aber das würde jeder sagen, nachdem er mich singen gehört hat."
„Du wurdest verflucht?"
„Ich hatte mich von meinem Freund getrennt und er sprach aus Rache den Fluch über mir aus. Er aktualisiert mein magisches Potenzial permanent, sodass ich mich nicht mehr in einen Menschen zurückverwandeln kann und ständig sehr müde bin."
„War dein Freund ein Magier?"
„Nein. Flüche wirken trotzdem. Sie rufen böse Geister. Als Nahrung für ihre Leistung bekommen sie eine traurige, gebrochene Seele."
„Hat er dann eine Zauberformel gesprochen?"
„Jedes Wort kann verfluchen, wenn es mit der entsprechenden Intention ausgesprochen wird. Es reicht, wenn dir jemand sagt, dass du hässlich bist. Du wirst nie wieder mit demselben Blick in den Spiegel schauen. Ein Fluch zielt auf das Innerste, und wenn das zerbricht, leiden die äußeren Schutzschichten der Seele mit, die man sich aufbaut, um nicht weiter verletzt zu werden."
Diese Weisheit und Lebenserfahrung hatte er einem Fisch nicht zugetraut. Es ergab Sinn. Einen Fluch hatte man auch bei Dorian nie ganz ausgeschlossen. Hatte seine Mutter ihn verflucht, indem sie ihn gemobbt hatte? Hatte Zen dasselbe getan? War sein Monster dadurch stetig gewachsen? Er konnte froh sein, dass diese Flüche im Vergleich zu Sirenas relativ klein waren. Allerdings hatte sie nur einen erlitten und er gleich dutzende. Ein großer Fluch und viele kleine über lange Zeit – das kam auf dasselbe heraus.
„Was hat er gesagt?"
„Eine Verführerin bist du, eine Mörderin der Hoffnung, wie eine Sirene, die Seemänner durch Gesang in den Tod lockt. Dein Inneres ist fast so hässlich wie dein Äußeres. Du hast mich gebrochen, darum breche ich dich. Geh ins Wasser und stirb dort! Und kehre nie wieder zurück an Land! Du verdienst es nicht, als Mensch zu leben! Du sollst für immer eine Sirene sein!"
„Krass." Es klang nicht so mächtig, wie es wirkte. Aber er war auch nicht Sirena. Es gab Menschen, die fielen hin und standen wieder auf. Und dann gab es Menschen wie Dorian, die jedes Schimpfwort persönlich nahmen und jahrelang ihren Hass darüber kultivierten. Sie war sensibel, wie er.
„Ich denke, ich habe meinen Teil zur Wirkung des Fluchs beigetragen. Eine Entscheidung wirkt wie ein Selbstfluch oder -segen. Ich habe mich entschieden, ihm zu glauben. Aber ein anderer kann dir gar nicht sagen, wer du bist. Er steckt nicht die ganze Zeit in dir drin. Du kennst dich selbst am besten. Nur du solltest deine Identität bestimmen."
„Der Mensch kann sich selbst nie wirklich kennen. Um über sich zu reflektieren, muss er sich von außen betrachten. Er ist auf die Rückmeldungen anderer angewiesen."
„Du vielleicht. Ich versuche, sie hinter mir zu lassen."

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