41. Zähmung der Bestie

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Das Zirkuszelt war voll besetzt. Popcorntüten knisterten, Kinder rutschten ungeduldig hin und her, Menschen redeten durcheinander. Früher, als sie noch kein eigenes Zelt hatten, hatten sie ganze Säle gemietet und dafür tief in die Tasche gegriffen, sodass sie sich kein Zelt leisten konnten. Dann hatte eine Wohltätigkeitsorganisation ihnen ein Zelt gespendet. Dorian graute davor, es wieder abzubauen.

Daemonica begann die Show:
„Herzlich willkommen in der Anderswelt! Jeder, der eintritt, kommt verändert heraus – oh, da will schon jemand gehen." Der Schatten trat aus ihr heraus. „Bleib gefälligst hier." Sie verfolgte ihn durch die Manege.
„Normalerweise jagt der Schatten den Menschen", sagte Nonvisum und zündete sich gelangweilt eine Zigarette an.
„Ja, es ist viel witziger, wenn du es erklärst", sagte Daemonica sarkastisch. „Und rauchen ist hier drin verboten. Mach die Kippe aus."
„Zwing mich doch." Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Der Schatten verschwand in Nonvisum, warf die Zigarette auf den Sandboden und trat sie aus.
„Ich gehe jetzt wieder, wenn man hier so schlecht behandelt wird", grummelte der Alte.
„Der einzige Ausweg führt über dieses Drahtseil, dann durch den Reifen über das Trapez." Sie zeigte nach oben.
„Ich und meine große Klappe."
„Liebe Zuschauer. Glauben Sie wirklich, dass diese tattrige alte Mann..."
„Sag mal, wie sprichst du denn über mich?" Er klang wirklich aufgebracht.
„...diesen Drahtseilakt schafft?" Die Leute riefen vereinzelt Nein. „Dann lassen Sie sich überraschen." Aura spielte Flöte, während der Schatten Nonvisum über das Drahtseil balancierte. Dann setzte er sich in einen Reifen, den einer der Zwillinge an einem Seil in die Luft zog. Nonvisum bewegte sich geschmeidig wie eine Ballerina, hing, sobald oben angekommen, nur an einem Bein im Reifen und schaukelte, bis er das Hochseil erreichte. Dort vollführte er Kunstsprünge, sogar einen Salto. Viele klatschten, andere staunten.
Als er wieder unten war, regnete es Jubel, Applaus und Pfiffe, bis Nonvisum seine Hose verlor.
„Das passiert, wenn man keinen Gürtel trägt", stöhnte er. „Ist das peinlich, ich wünschte, ich wäre unsichtbar." Daemonica zog ihren Schatten zurück und Nonvisum machte sich unsichtbar.
„Ah, viel besser." Er zog alle Klamotten aus. „Ich bin frei, juhu!" Er rannte aus dem Zelt, während Daemonica sich ein Mädchen aus dem Publikum holte.
„Wie heißt du?", fragte sie.
„Goya."
„Kannst du Oboe spielen, Goya?"
„Nein."
„Jetzt kannst du es." Sie zog eine Oboe unter ihrem Mantel hervor, sodass Goya nicht bemerkte, wie der Schatten in sie sprang. Das Mädchen spielte ein fröhliches Stück, passend zum Frühling. Dabei stand sie auf einem Bein. Der Schatten hatte die volle Kontrolle übernommen, weil er wollte. Heute ließ er sich nicht viel sagen. Als er durch das Zelt geflohen war, war das keine Absicht gewesen. Daemonica hatte nur so getan. In Wirklichkeit kannte sie das Gefühl, alle Macht über sich zu verlieren, aus täglicher Erfahrung.
Goya erinnerte sich danach nicht daran. Sie fragte:
„Was mache ich hier in der Manege?"
„Du hast Oboe gespielt. Sehr schön sogar."
„Aber ich kann nur Klavier spielen." Sie verstand die Welt nicht mehr. Alle lobten sie für das schöne Stück, und sie stellte ihre Wahrnehmung infrage.

Nach dem Applaus kam Nonvisum wieder ins Zelt, immer noch unsichtbar. Darum bemerkte niemand, wie sich die Plane vor dem Eingang zurückschob. Er setzte sich an das Klavier und begann zu spielen. Es wurde dunkel.
Dorian stand hinter der Plane bereit, nur mit einem schwarzen Lendenschurz bekleidet. Er spazierte herein, alle Konzentration nach innen gerichtet, wo das Monster sich gegen die Wände seiner Haut stemmte. Dorian war ein Gefängnis. Ein Gefängnis, das, als das Licht anging, eine Axt hob und vor allen Leuten Holz hackte. Er beherrschte es nicht gut, die Axt blieb im ersten Scheit stecken.
Dann marschierte Aura ins Zelt.
„Hey, Furor. Was machst du gerade?"
„Niemand nennt mich so!" Er ließ die Axt fallen und verwandelte sich schneller, als die Leute geschockt nach Luft schnappen konnten. Aura kreischte und stürmte aus dem Zelt. Dorian brüllte und zog die Axt aus dem Scheit. Dann spaltete er das Holz mit bloßen Händen und fuhr fort, bis alles Holz gehackt war. Die Zuschauer kannten ihn nicht, höchstens aus kurzen Zeitungsartikeln, aber ihn real vor sich zu sehen war eine intensive Erfahrung. Ein domestiziertes und dennoch wildes Monster sah man nicht jeden Tag, genau genommen nie, da es in Dorians Welt keine Monster gab.
Sem legte Dorian schließlich eine schwere Kette mit einer Eisenkugel daran um die Füße und zog ihm ein Sträflingshemd über. Es fühlte sich vertraut an, obwohl er in der Psychiatrie seine eigenen Sachen getragen hatte. Sem reichte ihm einen Eispickel und schob ihn zu einer Reihe Felsen.
Die Show brauchte keine Worte. Die Musik sagte alles. Monoton wurde sie, als er lustlos mit dem Pickel auf die Felsen einhackte und nichts passierte. Er warf daher den Pickel von sich und benutzte Hände und Füße, bis die Felsen so klein waren wie Kieselsteine. Die Musik steigerte sich, jubelte fast mit dem Publikum. Nonvisum hat es echt drauf. Gleichfalls ertönte aus seinem Mund ein Brüllen, als er auch die Eisenkette von sich riss. Sem legte nun seine Arme in Ketten, die er ebenfalls zersprengte.
„Kein menschliches Band hat mich in der Hand!", rief er, mehr Tier als Mensch.
An der Decke hing ein Rollbraten für ihn. Dorian trat einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang in die Luft, leicht wie eine Sprungfeder. Doch er verfehlte den Rollbraten um Haaresbreite. Frustriert landete er und brüllte noch einmal im aufstiebenden Sand. Es tat gut, endlich die wahren Gefühle herauszulassen. Sie gaben ihm Energie, um den Rollbraten beim zweiten Versuch zu erhaschen. Dann biss er hinein und kaute zufrieden. Sem streichelte ihn wie einen Hund.

Ein Mann, ein MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt