12. Überfall

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Am Ende der neunten Klasse blieb Zen sitzen. Ohne seine charismatische Führung löste sich seine Gang auf, zumal einer von ihnen umzog und ein anderer wegen Drogenschmuggels die Schule wechseln musste. Dorian freute sich auf die neue Klasse. Er würde viele neue Mitschüler bekommen, und auch Luy wäre wieder dabei. Wenn die, die ihn kannten, dicht hielten, würde zum ersten Mal nicht die ganze Klasse von seiner Besonderheit wissen. Wie es wohl war, als normal angesehen zu werden? Seine Vorstellungskraft beschrieb dieses Szenario als den Himmel auf Erden.

Mina hatte nicht aufgehört, ihn vor den Folgen seiner Verwandlungen zu warnen:
„Du bist jetzt strafmündig."
„Ich weiß, Mama, das sagst du mir seit einem Jahr."
„Wenn du dich nicht benimmst, kommst du ins Irrenhaus. Und das wird dann für immer in deinem Lebenslauf stehen. Niemand wird dich einstellen, wenn du in der Anstalt warst."
Dorian hatte diese Horrorvision bisher als unrealistisch abgetan. Nahe ging sie ihm erst, als Herold berichtete:
„Bei meiner Nichte in Quoia wurde eine magische Fähigkeit festgestellt. Sie ist im Heim. Ich denke, wir sollten sie besuchen."
„Du meinst Fatah? Die, die nicht spricht?", fragte Mina nach.
„Sie hat angefangen zu sprechen. Sie hatte Streit mit ihrem Bruder und sie hat widersprochen. Sie sagte: Ich wünschte, eine fleischfressende Pflanze würde dich verschlingen! Dann ist eine Ranke mit Dornen aus dem Boden gewachsen und hat ihren Bruder verletzt. Er hat die Bluterkrankheit und wäre fast gestorben. Seither hat sie nicht mehr gesprochen, aber da beide Bedingungen für das Heim erfüllt waren, wurde sie eingewiesen." Von den zwei Aufnahmebedingungen des Heims musste eine erfüllt sein: 1. Die mit der Kraft einhergehenden psychischen Störungen sorgen für erhöhten Unterstützungsbedarf. 2. Die Kraft ist unkontrollierbar und sorgt für Schäden an Mensch und Umwelt oder am Individuum selbst.
Mina machte der Fall zu schaffen. Es gab noch mehr Monster in ihrer Familie. Nein, nicht in ihrer. Dorian hatte die Kraft von Herolds Seite geerbt. Ihr Mann war schuld, dass ihr Kind verflucht war. Daher weigerte sie sich, mit nach Quoia zu reisen:
„Wer versorgt die Schweine in unserer Abwesenheit?"
„Auf dem Markt finden sich immer Tagelöhner", argumentierte Herold. „Zur Not kann Fey..." Wie gewohnt fiel sie ihm ins Wort:
„Ausgeschlossen. Sie hat einen Bandscheibenvorfall. Wir können ihr nicht noch mehr Arbeit aufbürden. Das wäre unhöflich. Ihr beiden fahrt alleine."
„Kümmert dich Fatah gar nicht? Sie gehört zur Familie."
„Zu deiner Familie."
Mina blickte ihnen nicht einmal hinterher, als Herold und Dorian abfuhren. Sie wollte nichts mit magischen Kräften zu tun haben. Sie machten Menschen entweder pflegebedürftig wie Fatah oder zu Mördern wie Tarja. Wenn Dorian in der Gesellschaft als Mensch versagte, würde sie ihn verleugnen. Er war nicht ihr Sohn, sondern Herolds. Sie wusste, dieser Schritt würde ihr wehtun. Doch sie musste sich schützen. Wer Kriminelle schützte, wurde mit ihnen bestraft.

Herold befuhr einen einsamen Weg. Rechts wucherte der Wald, links tat sich ein weites Feld auf. Dorian ignorierte das Holpern des Wagens und schwelgte in Erinnerungen. Er war einmal mit Fatah im Urlaub gewesen. Da war sie nur ein nonverbales Kind von sechs Jahren gewesen. Manchmal hatte sie ihrer Mutter etwas ins Ohr geflüstert. Dorian war gut mit ihr klargekommen. Er selbst hatte auch Schwierigkeiten, mit Menschen zu kommunizieren. Und jetzt sollte sie ihren Bruder fast getötet haben? Unmöglich. Dorian stand auf ihrer Seite, egal wie schwer sie nun im Heim dafür bestraft wurde. Er kannte aus eigener Erfahrung die Unzähmbarkeit des Übernatürlichen.
„Sie tut mir Leid", sagte Dorian zu seinem Vater, der das Pferd führte.
„Warum?"
„Weil sie ein Opfer ist."
„Du musst bedenken, dass sie jemanden schwer verletzt hat."
„Das schließt nicht aus, dass sie auch Täterin ist. Aber sie hat es nicht absichtlich gemacht. Sie ist kein kalt berechnender Killer." Er erinnerte sich mit betäubendem Schuldgefühl daran, wie er Zen getreten hatte.
„Natürlich nicht", stimmte Herold ihm zu. „Auch mir tut Leid, was ihr widerfahren ist. Aber ich bin sicher, ihr geht es gut im Heim. Dort kümmert man sich um ihre speziellen Bedürfnisse." Dorian hoffte nur, dass sie das Heim irgendwann wieder verlassen durfte. Dass das Stigma, das an den magischen Kräften haftete, sie nicht völlig zerbrach.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now