39. Freak

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Er stand vor dem Zirkuszelt. Ein grelles Plakat meldete, dass dies die Freakshow war, die er gesucht hatte. Es gab kein Zurück mehr. Geh schon rein!, forderte er sich auf. Doch die Angst wuchs wie Schlingpflanzen aus seinen Fußsohlen und verwurzelte ihn im Boden.
„Was, wenn sie mich ablehnen? Wenn ich nicht gut genug bin?", stammelte er. Nicht gut genug? Junge, du bist hier unter Versagern! Die böse innere Stimme hatte Recht. Er musste den Schritt wagen, dafür war er fünf Tage gewandert!
Er ließ ein Warnschild hinter sich, das den Zutritt für Unbefugte verbot. Hier war der Boden schlammig. Ein weiteres Warnschild im Wohnwagenbereich verkündete Lebensgefahr aufgrund magischer Kräfte.
„Alter, gibt es hier Monster?" Es roch nach den Pferden, die zum Ziehen der Wagen bei der Weiterreise verwendet wurden.
„Entschuldigung?" Eine Hand pochte gegen Glas. Als er sich nach links drehte, erblickte er ein riesiges Aquarium auf Rädern, das eine Meerjungfrau bewohnte. Ihr Schwanz war schwarz wie ihre Haare, ihre scharfen Zähne konnten Knochen zermalmen. „Suchen Sie jemanden?", fragte das Wesen.
„Ja, den Direktor. Ich will beitreten."
„Echt? Das ist ja cool! In letzter Zeit sind viele von uns gestorben oder ausgetreten." Ihre Stimme klang dumpf durch das Glas. „Wir brauchen neuen Schwung!" Sie schlug zur Untermalung ihrer Worte einen Salto unter Wasser. „Geh geradeaus, bis du einen Wagen mit blauem Dach siehst. Dort wohnt die Direktorin."
„Danke." Seine Angst war gesunken. Die Meerjungfrau hatte ihn freundlich begrüßt und war von seiner Bewerbung angetan. Doch ihr oblag nicht die Entscheidungsgewalt.

Er klopfte an den blauen Wohnwagen, indem er gegen die Plastikplane schlug.
„Hallo? Ich möchte Ihrer Show beitreten!" Die Frau, die den Kopf herausstreckte, erkannte er sofort.
„Daemonica!", entfuhr es ihm.
„Kennen wir uns?"
„Sie haben mich einmal gesteuert, als ich 12 war. Sie haben mich danach angesprochen, weil ich es genossen habe."
„Entschuldigen Sie, ich erinnere mich nicht. Das Alter. Sie sagen, Sie möchten beitreten? Haben Sie Referenzen?" Er reichte ihr Ainas Brief. Sie überflog ihn kurz. Er ergänzte:
„Ich bin fünf Tage gewandert, nur um Sie zu sehen."
„Das zeugt von Entschlossenheit. Gefällt mir. Kommen Sie doch rein."
Das Innere des Wohnwagens war beengt, vollgestopft mit extravaganten Kleidern an einer Stange, Perücken und Schminkzeug (das erklärte, warum sie seit damals kaum gealtert war). Ein Kinderbett stand dazwischen, ordentlich aufgereihte Plüschtiere beobachteten sie. Sie setzten sich auf den Fußboden, da für einen Tisch der Platz nicht reichte.
„Erzählen Sie mir, was Sie bewogen hat, ein Freak zu werden."
„Meine Besonderheit. Ich bin Gestaltwandler und deswegen schon dreimal gekündigt worden. Vielleicht haben Sie von mir in der Zeitung gelesen. Ich bin Dorian Fenn. Ich habe Mortimer aus Ilea besiegt."
„Nie gehört." Das waren ja beste Voraussetzungen, dachte Dorian sarkastisch.
„Ich habe nur von einer Demonstration gehört, die von einem Gestaltwandler begleitet wurde."
„Das war ich."
„Also haben Sie Erfahrung auf der Bühne."
„Nur diese eine. Aber ich habe sie genossen. Ich habe eine Botschaft zu teilen, nämlich dass Magier eine Existenzberechtigung haben und es nicht verdienen, mit Vorurteilen unterdrückt zu werden. Ich kannte Tarja Junaz. Sie hat mich gelehrt, das Leben zu lieben. Und das möchte ich verbreiten. Dass wir nicht alle Verbrecher sind, sondern wunderschön mit allen Ecken und Kanten."
„Das deckt sich mit der Botschaft, für die ich mich einsetze. Inklusion statt Vorurteile. Wir nehmen dich auf. Unter einer Bedingung: Du musst mir zeigen, was du kannst. Das Verbotene an dir."
„Jetzt?" Sie nickte.
„Das Showgeschäft ist hart. Eine Verwandlung muss auf Knopfdruck funktionieren." Okay, das ist leicht. Ich habe genug Angst zu versagen, um das Monster herauszulocken. Ich muss nur aufhören, es zu unterdrücken.
Die Verwandlung blieb aus. Verwundert sah er auf seine Hände:
„Das ist der Vorführeffekt. Ich könnte schwören, es war genug Energie da." Hatte er sie vielleicht aufgebraucht, als er sich im Wald verwandelt hatte? Die Angst vor dem Wiedererleben aller Ereignisse, in denen er ausgeschlossen wurde, steigerte sich dermaßen, dass sie schließlich doch zum Monster wurde. Fell wuchs auf seinem Körper, der Buckel brach hervor, Krallen fuhren aus seinen Händen und Rot tränkte seine Augen.
Daemonica reagierte nicht. Sie nickte nur und zog ein Formular aus einem Regal hervor. Noch nie hatte er erlebt, wie jemand auf eine Verwandlung so reagierte. Alle fürchteten sich, alle sollten sich vor ihm fürchten, damit sie ihn in Ruhe ließen. Daemonica zollte ihm Anerkennung, dass er es geschafft hatte. Da überwog die Erleichterung und er verwandelte sich zurück.
„Nicht schlecht. Ein Monster hatten wir noch nie. Was dem am nächsten kommt, ist Serena da draußen. Die Meerjungfrau im Tank."
„Die habe ich gesehen. Sie war sehr nett."
„Oh, das ist sie nicht immer. Jedenfalls, ich habe hier das Aufnahmeformular. Trage hier deinen Namen, Geburtsdatum und letzte Adresse ein. Dann zeige ich dir deinen Wohnwagen. Du wirst ihn dir mit Boas teilen." So schnell war sie zum Du übergegangen. Er studierte das Formular. Der Vertrag war auf ein Jahr befristet, konnte aber unbegrenzt verlängert werden. Sie hatte im Feld „Magiekraft" Gestaltwandlung eingetragen und es nicht näher erklärt, obwohl das Formular dazu aufforderte.
„Du kannst es gern beschreiben, aber ich denke, der Begriff umreißt es ganz gut."
„Nein. Ich kann als Monster viel schneller rennen und bin sehr stark. Ich kann das Vierfache meines Gewichts heben. War hilfreich beim Armdrücken", lachte er. „Das Monster ist viel mehr als nur gruselig." Er berichtete ein wenig aus seinem Leben.
„Ich muss es wissen", sagte Daemonica dann. „Fühlt es sich für dich auch so an, als wäre da ein zweites Ich in deiner Brust?"
„Ja. Aber es kann nicht selbstständig denken. Es fühlt hauptsächlich."
„Bei mir ist es umgekehrt. Mein Schatten kann denken, aber nicht fühlen. Er ist kalt und berechnend. Manchmal übernimmt er meinen Körper und ich finde mich an Orten wieder, wo ich noch nie war und keine Ahnung habe, wie ich dorthin gekommen bin."
„Da geht es mir ja recht gut. Bei einer Verwandlung bleibt das Bewusstsein erhalten, aber je nach Stärke der aktivierenden Emotion schwindet die Handlungsfähigkeit. Ich bin dann ein Gefangener im Körper des Monsters und muss hilflos mit ansehen, wie es Dinge zerstört."
„Hilflos bist du nicht mehr. Du bist bis hierher gekommen. Manche sagen, der Zirkus sei die letzte Bastion für Magier vor der Behindertenwerkstatt. Aber er ist mehr als das. Er ist ein Botschafter dafür, dass die Welt bunt ist und bunt bleibt." Das konnte er unterschreiben, dachte er, als er das Formular unterzeichnete.

Sein Mitbewohner Boas war ein kleiner Glatzkopf Mitte dreißig und ein Schlangenmensch. Er konnte seinen Körper dehnen und verformen, als hätte er keine Knochen. So erreichte er mit einem ausgestreckten Arm die Dachrinne eines Mehrfamilienhauses.
„Wenn ich meinen ganzen Körper einsetze, kann ich mich einmal quer um den Wohnwagen winden."
„Cool." Er verstand sich nicht darauf, Komplimente zu verteilen. Er tat sich schon schwer damit, selbst welche anzunehmen. „Ich bin ein Monster. Also, wenn ich wütend werde."
„Ich auch", lachte Boas. „Ich denke, wir passen gut zusammen." Er holte eine Matratze unter seiner eigenen hervor. „Hier hat vorher der Minimann geschlafen. Wenn du uns Ende der Sechziger besucht hast, kennst du ihn vielleicht noch. Er konnte sich sehr klein oder sehr groß machen. Aber er bevorzugte es, in seiner normalen Größe zu schlafen. Das war für ihn erholsamer."
„Verstehe ich." Er dachte daran, wie er sich nach der Begebenheit mit den Räubern im Schlaf verwandelt hatte, und wie erschöpft er danach gewesen war.
Boas gab ihm ein Bier und er erzählte Dorian, wie es hier lief.
„Vor deinem ersten Auftritt sollst du dir eine Show ausdenken, etwa 5-10 Minuten. Ich mache immer eine Art Tanz, ich improvisiere. Die Leute finden es ja schon faszinierend, wenn ich nur den Kopf um 180 Grad drehe. Kannst du tanzen?"
„Nein, aber ihr könntet euch alle auf eine Bank setzen und dann hebe ich euch hoch."
„Das klingt als Einstieg ganz gut, aber Superstärke sollte nicht alles sein, wenn du mehr zu bieten hast. Überleg dir ein Markenzeichen. Was macht dich aus? Drei Worte, mehr nicht. Falls du ein Bühnenbild brauchst, das macht Nonvisum. Den kennst du vielleicht noch. Nimm dich vor ihm in Acht. Er ist ein echtes Arschloch. Wende dich an mich, wenn du mit ihm Ärger hast. Daemonica ist auch ganz hilfsbereit. Wir sind eine Familie. Trotzdem wäre es gut, wenn du dir nicht so viel bei den anderen abschauen würdest. Sei originell. Es ist schwierig, auf Knopfdruck kreativ zu sein, aber mit der Zeit hat man Übung darin.
Was das Üben angeht, solltest du es jeden Tag tun. Das steigert dein magisches Potenzial."
„Steigern? Ich will, dass es sinkt oder zumindest so bleibt, wie es ist!"
„Es steigt auch nur um ein bis zwei Einheiten. Der Körper muss sich daran gewöhnen. Das musste ich am Anfang lernen. Wenn ich mich länger als eine Minute verformt habe, bekam ich Schmerzen. Sie sind leider chronisch geworden, aber ich lerne, damit zu leben. Die Ärzte sagen, es liege keine körperliche Ursache vor. Sie nennen es Fibromyalgie."
„Klingt schmerzhaft. Mir tun die Verwandlungen nach zwei Stunden auch weh."
„Zwei Stunden? Alter, wie viel Potenzial hast du bitte?"
„15 Einheiten."
„Ich habe nicht mal die Hälfte. Glückwunsch, Dorian. Du wirst dich weniger anstrengen müssen als wir anderen." Er lächelte glückselig. Hier brauchte er keine Maske mehr, keine Kiste, in die er das Monster pressen musste, während er versuchte, ein normaler Mensch zu sein. Auf Schauspiel würde er noch angewiesen sein. Aber es würde echter sein als das, was er im Referendariat abgezogen hatte.

Den Rest des Tages machte Boas Gymnastik, während Dorian sich eine Show ausdachte. Er hatte eine Liste angefangen:

-auf der Bühne auf Befehl verwandeln (fortgeschrittenes Niveau)
-Menschen hochheben
-Eisen verbiegen
-Beton oder Holzbalken spalten
-mit einem Bären ringen
-Entfesselungskünste demonstrieren
-aus großer Entfernung ohne Anlauf in einen Pool springen
-mit schauriger Musik durch das Publikum laufen und willkürlich an Leuten riechen, vielleicht jemanden entführen und fesseln

Daemonica war stolz auf seine Leistung:
„Am ersten Tag erwarte ich von dir noch keine vollständige Show. Schau erst mal eine Weile bei uns zu. Die Liste gefällt mir, nur verstehe ich den letzten Punkt nicht. Willst du dich als starker Mann oder als Tier inszenieren?"
„Beides. Ich werde in jedem Fall Musik brauchen."
„Leider haben wir den Mann nicht mehr, der Hände als Füße hatte. Er hatte das absolute Gehör. Er konnte an einem Tag eine Oper schreiben. Viele davon haben wir aufgeführt. Heute kann Nonvisum Klavier spielen. Es hat einen schaurigen Effekt, wenn er dabei unsichtbar ist. Mehr habe ich nicht zu bieten. Aura lernt Flöte, nur ist sie noch ganz am Anfang."
Sie vereinbarten, dass er auftreten sollte, sobald er seine Show fehlerfrei vorführen konnte. Zunächst sah er nur zu, wie damals in seinem Studentenpraktikum. Diesmal war er mittendrin statt nur dabei. Ich muss mich zwar nicht mehr anstrengen als alle anderen, aber ich darf mich nicht dem Müßiggang hingeben.
„Hast du dir schon einen Künstlernamen überlegt?", wollte Daemonica wissen. „Wir sprechen uns alle nicht mit unseren echten Namen an. Wir finden, so ist es cooler."
„Furor."
„Wie?" Er wiederholte es.
„Raserei", übersetzte er und dachte in seinem Herzen: Ich bin Furor. Ich bin es die ganze Zeit gewesen. Es wird Zeit, ich zu sein. Der zu werden, der ich bin. Ich darf nie vergessen, wer ich bin. Sonst vergesse ich auch, was ich werden soll.


Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now