19. Die Nacht, die alles änderte

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Dorian glaubte der Rektorin nicht. Spätestens heute, als er verwandelt das Schulgebäude verlassen hatte, hatte er eine Straftat begangen. Und wer verfolgt wurde, der musste fliehen. Und selbst, wenn er nicht verfolgt wurde: Er würde fliehen. Und zwar nach Quoia, um Fatah zu besuchen. Er wollte sie ein letztes Mal sehen, bevor er hinter Gittern seine Seele aushauchte. Er würde das Gefängnis nicht überleben. Dafür war er zu sanftmütig, selbst als Monster. Vielleicht konnte er sich in Quoia einer Freakshow oder dem Militär oder irgendeiner Einrichtung anschließen, die ihn nicht sofort ausspucken würde wie eine heiße Kartoffel. Aber das klang unrealistisch. Sein verengter Blick sah hauptsächlich den eigenen Suizid, den er nach dem Besuch in Quoia begehen würde. Was hielt ihn noch auf dieser Welt? Er war es nicht mehr wert zu leben. Er war eine Last. Die Welt brauchte keine Magie. Sie brachte nur Unglück.
Um nach Quoia zu gelangen, musste er seine Tilla durchqueren. Ihm graute davor. Zwar lag sein Elternhaus nicht auf dem Weg, aber seine Eltern konnten ihm überall begegnen. Er sah bereits den anklagenden Blick seiner Mutter vor sich, die ihn verbal töten würde, sobald sie von seiner Kündigung erfuhr. Sie hatte ihn immer dazu gedrängt, Beamter zu werden. Und sie war es auch gewesen, die seine Kündigung vorausgesehen hatte. Wieder hatte sie Recht behalten. Er hasste sie dafür. Welche göttliche Macht erlaubte es einem solchen Drachen, die Wahrheit zu sagen?

Flucht war die Lösung eines Feiglings, doch dieser Feigling wollte leben. Unter anderem Namen natürlich. Er nahm den Namen seines verstorbenen Bruders an und veränderte seinen Nachnamen ein wenig. Adis Frenn. Das klang überzeugend. Adis, ich habe dich zum Leben erweckt. Ich lebe jetzt dein Leben, versprach er ihm. Verachte mich nicht, wenn ich scheitere. Ich bin zum Scheitern geboren. Das Leben seines Bruders leben – eine doppelte Last. Mehr Druck konnte er eigentlich nicht gebrauchen. Hatte er sich deswegen in der Schule und im Studium so verrückt gemacht? Weil er geglaubt hatte, er müsse das Leben eines Menschen führen, der nie existieren durfte? Und warum hatte er sich vorgestellt, dass Adis keine magischen Kräfte und ein tolles Leben gehabt hätte?

Seine wenigen Sachen hatte er in einen Rucksack gepackt und die Stadt verlassen, als der Mond höher gestiegen war. Nun musste er durch den Wald. Wo sollte er übernachten? Luys Eltern. Nein, sie würden seine Eltern informieren. Ein altes Gasthaus am anderen Ende des Dorfes. Teuer, aber die perfekte Tarnung für diese Nacht. Niemand würde einen Flüchtling in seiner Heimat vermuten.
Dorian bemerkte nicht, dass er immer schneller ging, um den Marterort hinter sich zu bringen, wo sein Traum gestorben war. Von seinen Zehenspitzen bis zum Kopf kroch das Monster in seinen Körper und rannte tief in den Wald hinein, wo es hingehörte. Dorian fiel auf, dass er fast zwei Meter groß war. Die letzte Qual hatte es gedüngt wie eine Pflanze. Es schrie und weinte, brach unter einer den Himmel stürmenden Zeder zusammen. Und vor seinem Grollen fürchteten sich alle Tiere des Waldes.

In dieser Nacht tat eine alte Frau ihren letzten Atemzug. Ihre Fähigkeit, Dinge in Stein zu verwandeln, kehrte sich gegen sie und versteinerte sie selbst, während eine andere Frau, die einst ihr Opfer geworden war, aus ihrer grauen Hülle herausbrach.
Die steinerne Tarja erwachte. Der Stein bekam Risse und fiel in großen Stücken von ihr ab. Als der harte Schleier ihre Augen öffnete, durchfuhr sie die letzte Erinnerung. Die Zauberin aus Quoia stand mit erhobener Hand vor ihr:
„Das ist dein Ende, Tarja!" Und sie brüllte die Worte, die der Stein sie 31 Jahre lang nicht sagen ließ:
„Nein! Das ist dein Ende!" Und sie schoss nach vorne auf die vermeintliche Feindin. Ein blauer Strahl ging von ihrer Hand aus und traf die Ecke eines Mehrfamilienhauses, das im untersten Stock seither nur noch drei Ecken hatte. Erst als die Explosion ertönte, wurde Tarja in die Gegenwart katapultiert. Keine Zauberin stand vor ihr. Es stand überhaupt niemand auf dem Marktplatz, nur sie selbst. Und es war auch nicht Mittag, sondern Nacht. Es war auch nicht Frühling, sondern eiskalt. Um sie herum lag auch kein Schutt, sondern eine schöne, saubere Stadt.
Sie stellte fest, dass sie erhöht stand, und sprang von ihrem Sockel.
„Was ist das?" Sie inspizierte den Sockel genauer. „Du sollst nicht töten, denn du bist ein Mörder. Tarja Junaz, 1829 - 1851", las sie vor. Wo waren die 30.000 Mann und ihr Vater, der General? Warum war es plötzlich Nacht geworden? Eben hatte sie noch in ihrer Rüstung Schutt und Asche geschaffen und die Todesstrahlen der Zauberin mit ihren eigenen abgewehrt. Ihre Schritte fielen ihr leicht, denn jemand hatte ihr die Rüstung abgenommen – sie passte nicht zu einem Friedenssymbol.
„Scheiße, wer hat mich ausgezogen? Und wo bin ich hier? Und vor allem: Wann bin ich?" Es schien sehr viel Zeit vergangen zu sein, denn sie hatte einen Bärenhunger.
Wenn niemand mehr hier war, der über sie wachte und befahl – dann war der Plan fehlgeschlagen. Die Zauberin musste sie versteinert haben, und zwar für längere Zeit, mindestens ein paar Wochen. Aber die Stadt sah aus wie neu. Und das Ausmaß ihrer Zerstörung konnte nicht in ein paar Wochen wiederhergestellt werden. Es waren Jahre vergangen, die Armee bestand nicht mehr. Eine Herrscherin wie sie war nichts ohne ihre Untertanen. Und ihr Vater? Er war überall oder nirgendwo. Sie wusste noch, was er vor dem Einmarsch Acadias zu ihr gesagt hatte:
„Wenn irgendwas schiefgeht, wenn ich sterbe und du nicht, dann lauf weg. Geh zurück nach Syca und tauche bei deinen Freunden unter, bis ich dich kontaktiere."

Ein Mann, ein MonsterOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz