23. In den Bergen

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Dorian schlug sich durch Gebüsch und Dornen, blieb mehrmals mit dem Rucksack daran hängen, sprang über Felsbrocken, rutschte einmal auf Moos aus und rappelte sich hastig wieder auf. Er hatte fast den ganzen Hügel erklommen. Zwischen den kahlen Bäumen lud ein weißes Gebirgspanorama zum Verschnaufen ein.
Doch nicht für ihn. Er konnte an nichts anderes als an Flucht denken. Und er bereute, sich mit Tarja eingelassen zu haben. Wenn sie nicht gefährlich für ihn war, ihr Schicksal war es bestimmt. Er hatte gedacht, es könnte für ihn nicht schlimmer werden. Falsch. Ein Abgrund konnte auch tiefer werden.
Tarja hatte das Feuer eingestellt und klammerte sich um Dorians Hals. Sie war müde vom Kampf. Ein Zeichen dafür, dass sie heute keine Explosion mehr zustande bringen würde. Sie hatte sich noch nicht ganz von der Versteinerung erholt. Es war, als wolle ihr Körper wieder zu Stein werden.
„Deine Hände", stöhnte Dorian unter der Hitze, die sich in sein Brustbein brannte.
„Keine Sorge, sie detonieren nicht mehr. Ich habe mein ganzes Pulver verschossen."
„Sie sind furchtbar heiß. Wie hältst du das aus?"
„Ich spüre dort kaum noch was. Beim ersten Mal hat es mir die Haut abgerissen, jetzt bestehen meine Handflächen nur aus Hornhaut. Es ist ein Vorteil und ein Nachteil."
Er setzte seinen Weg ins Ungewisse schweigend fort. Links tat sich ein steiler Abgrund auf, in dem viele Erd- und Felsbrocken zerschellt waren. Sogar der Müll von Wanderern zersetzte sich dort.

Am Gipfel wehte eine Fahne. Drei einsame Wanderer bewunderten das Panorama. Auf allen anderen Bergen lag Schnee. Sie ließen die Wanderer hinter sich und Dorian blieb stehen, um zu verschnaufen und um sich über die Situation klar zu werden. Er war auf der Flucht, da er in etwas hineingezogen wurde, aus dem er sich nicht rechtzeitig herausgewunden hatte. Hätte er doch nur Nein gesagt, als er die Chance dazu hatte! Er hätte sie nach ihrem Fressanfall sofort aus dem Haus werfen sollen. Sie zerstörte sein Leben, über das Grab hinaus. Er trug nicht mehr nur die mentale Last der Diskriminierung durch ihr Gesetz, sondern auch sie selbst auf seinem Rücken.
Kein normaler Mensch hielt so etwas aus. Dorian war ein Monster und es war kein Ende der Verwandlung in Sicht. Sein Körper wurde mit überbordender Energie geflutet, er glaubte schier zu bersten. Die Panik stürzte ihn in einen endlosen Abgrund aus Tod und Sorgen. Er hasste Tarja, mehr als er je zuvor einen gehasst hatte.
Ich dachte, ich hätte nichts mehr zu verlieren. Doch eines habe ich noch zu verlieren: Mein Leben. Deshalb musste er sie loswerden. In Gedanken warf er sie bereits in den Abgrund. Sie mochten gleich sein, doch wenn das sein Ende bedeutete – so weit würde er nicht für sie gehen. Ein wahrer Freund starb für einen anderen, aber jemand, den man erst drei Tage kannte, war kein Freund.
Dorian blieb auf einem Plateau stehen, wo der endlose See aus Schnee begann. Das von der Sonne glitzernde Weiß bohrte sich wie Nadeln in seine Augen.
„Steig ab", forderte er Tarja auf.
„Kannst du nicht mehr?"
„Das kann man so sagen." Nachdem sie sich von seinem Rücken gewunden hatte, sah er ihr ernst in die Augen:
„Tarja, du bist nicht gut für mich. Ich habe dir geholfen, weil ich Mitleid hatte und weil ich dachte, uns würde etwas verbinden. Ich habe mich geirrt. Du bringst mir den Tod! Wäre ich doch allein gegangen, ich würde mich lieber von Räubern umbringen lassen als von der Polizei! Du hast mich gezwungen, das Monster zu werden, das ich nie sein wollte!" Nicht er redete, sondern das Monster. Dorian hätte nicht die Selbstsicherheit, um sich gegenüber einer Mächtigeren zu behaupten. Und sie war mächtiger, weil sie über sein Sein oder Nichtsein entschied. Ihre Kraft konnte ein Leben in Sekundenschnelle auslöschen, seinen Körper in Asche verwandeln, als ob er nie existiert hätte.
„Adis, es tut mir Leid. Ehrlich. Ich dachte, wir würden damit durchkommen."
„Du hast mein Leben zerstört! Deinetwegen bin ich nun ein gesuchter Krimineller! Flucht vor der Staatsgewalt wird mit mindestens einem Jahr Gefängnis geahndet. Also geh. Verlass mich und suche nicht nach mir. Ich werde zurückkehren und versuchen, nach Quoia zu gelangen. Die Polizisten kennen nur diese Gestalt. Als Mensch werden sie mich nicht erkennen. Ich habe also noch eine Chance. Du nicht mehr. Ich weiß nicht, wo du hingehen kannst, meinetwegen dorthin, wo der Pfeffer wächst. Lass mich einfach in Ruhe!"
„Wenn wir erst einmal in Syca sind, wird alles besser! Du kannst dort machen, was du willst, dir einen Job suchen oder zum Zirkus gehen. In Acadia wirst du gesucht und früher oder später gefunden. In Quoia auch, weil du dort Verwandte hast. Syca ist sicherer. Die Beziehungen der Länder habe ich nämlich zerstört. Acadia vertraut uns nicht mehr."
„Sie wissen, dass wir dorthin wollen! Sieh es ein. Du kannst nirgendwo hin. Deine Zeit ist vor 31 Jahren abgelaufen. Du hast keinen Ort mehr in dieser Welt." Er ging weiter. Vor, nicht zurück. Wenn er jetzt wieder hinabstieg, würden die Polizisten ihn verdächtigen. Er würde für ein paar Tage in Syca untertauchen und dann über einen Umweg nach Quoia ziehen.
„Wo gehst du hin?", fragte sie ihn.
„Keine Ahnung. Nach vorne."
„Dann komme ich mit."
„Nein."
„Du hast allein in diesem Gebirge keine Chance. Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Ich weiß, wie man hier überlebt. Ich kann ein Feuer machen."
„Wenn ich schnell laufe, bin ich am Abend da."
„Sieh dir an, wie die Sonne steht! Es ist bereits Abend! Willst du im Dunkeln weiterlaufen und dir den Fuß brechen? Oder gleich alles, wenn du abstürzt? Du magst übermenschliche Kräfte haben, aber selbst du schaffst dieses Gebirge nicht an einem Tag. Siehst du die Hütte da hinten? Dort können wir übernachten."
„Sie ist sicher von Wintersportlern belegt."
„Nicht in dieser Gegend. Sie ist nämlich zu gefährlich dafür."
„Gefährlich? Warum hast du mich dann nicht aufgehalten?"
„Weil uns in einer gefährlichen Gegend keiner suchen wird. Unsere Verfolger denken, wir wollen unser Leben retten und nicht uns umbringen."

Ein Mann, ein MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt