18. Die Wucht des Schmerzes

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Dorian hielt eine Reihe weiterer Unterrichtsstunden, in denen immer dasselbe kritisiert wurde. Dem Sportlehrer fielen ebenfalls krankhafte Züge an Dorian auf. Er formuliere seine Arbeitsaufträge nicht klar genug (das hatte ihm im Studium niemand beigebracht) und insgesamt verliefe jede Stunde chaotisch.
Eigentlich war diesmal der Arbeitsauftrag klar:
„Ihr schnappt euch ein Springseil und springt, während ihr euch dabei durch den Raum bewegt. Es sind große und kleine Hopser erlaubt. Es ist nicht erlaubt, andere mit dem Seil zu schlagen, also achtet bitte darauf, wo ihr hingeht." Ein Schüler verweigerte die Mitarbeit:
„Seilspringen ist für Mädchen." Mit diesem Spruch setzte er sich auf die Bank. Dorian verzweifelte. Er musste ihm den Marsch blasen und gleichzeitig 28 andere Kinder beaufsichtigen. Welcher normale Mensch war dazu in der Lage? Ein Brennen stieg sein Gesicht hoch, und der Junge erschrak:
„Ein Monster! Herr Fenn ist ein Monster!" Wie eine Maske wirkte sein bepelzter Kopf, Tränen standen in den roten Augen.
Die anderen Kinder hatten den Schrei vernommen und hörten auf, einander mit den Seilen zu schlagen oder durch den Raum zu jagen. Sie schickten sich an, das Monster zu sehen. Dorian war ein einziges Nervenbündel. Wenn er sich in die Ecke stellte, um sein Gesicht zu verbergen, würde er wirken wie früher, als Zen ihn zur Strafe in die Ecke gestellt hatte. Die Kinder würden ihn ob seiner Schwachheit auslachen. Im Studium hatte man ihn gelehrt, dass Lehrer schwache Momente haben durften, denn sie seien auch nur Menschen. Wichtig sei nur, dass man dennoch nicht aus der Rolle falle. Dorian fehlte schon die Voraussetzung, um diesen Rat zu befolgen: Er war kein Mensch.
Der Sportlehrer griff ein:
„Ihr lasst Herr Fenn bitte mit Thilo reden. Ihr hattet nämlich einen Arbeitsauftrag. Wie lautete er?" Ein Mädchen meldete sich und erklärte ihn. Dann tanzten die Kinder fröhlich durch den Raum. Die Seile klatschten unregelmäßig auf den Boden, wie Donner hörte es sich an. Die Erleichterung darüber, dass der Mentor übernommen hatte, spiegelte sich in Dorians zurückverwandeltem Gesicht wider.
„Krass", sagte Thilo. Zu mehr fehlten ihm die Worte.
„Du hast nichts gesehen", antwortete Dorian ihm. Unabsichtlich schwang eine Drohung in seinem Tonfall mit.

Der Junge hielt dicht, der Lehrer nicht. Zuerst wies er Dorian auf seine Fehler hin:
„Es ist nicht schlimm, wenn du dich im Unterricht verwandelst. Wirklich nicht. Aber dir fehlt das Selbstbewusstsein, dazu zu stehen. Die Kinder nutzen deine Unsicherheit aus und veranstalten ein Durcheinander. Vielleicht haben sie sogar abgesprochen, dass Thilo die Mitarbeit verweigert, um dich bloßzustellen." Die Grausamkeit von Kindern. Dorian war jahrelang ein Opfer gewesen und sah trotzdem noch zuerst das Gute in ihnen. „Du musst lernen, dich zu beherrschen. Auch auf deinen Tonfall solltest du achten. Am Ende der Stunde war er sehr pampig."
„Das war nicht meine Absicht", sagte Dorian mit dem Rest falschen Selbstbewusstseins, den er aufbrachte, um nicht zu weinen.
„Hast du einen Therapieplatz gefunden?"
„Nein."
„Dann such weiter."

Dorian lernte, Disziplin zu üben, aber er wollte es eigentlich nicht. Er konnte nicht schimpfen, selbst wenn ein Schüler etwas Furchtbares getan hatte. Mit ihm war ein Leben lang geschimpft worden, sowohl zuhause als auch in der Schule. Lehrer waren Mittäter gewesen. Er wollte keiner dieser Lehrer werden, weil er genau wusste, wie tief ein solcher Schmerz sich in eine sensible Kinderseele bohrte. Im Sachunterricht setzte er Schüler um, im Sport setzte er sie auf die Bank. Aber um jemanden hinauszuschicken, fehlte ihm die Dominanz. Das Kind mochte es noch so sehr verdient haben – allein die Vorstellung davon tat ihm persönlich weh, obwohl er hier der Erwachsene war. Und das Monster.
Dorian musste 200 % geben: Einerseits achtete er darauf, das Monster dort zu lassen, wo es war, andererseits versuchte er, die Ratschläge der Mentoren umzusetzen. In jeder Stunde war er nervös, doch unterhalb der Toleranzgrenze auf erträglichem Niveau. An eine gewisse Grundnervosität hatte er sich gewöhnt. Er hatte nicht erwartet, dass das Referendariat leicht werden würde. Es war um ein Vielfaches härter als das Studium. Hier konnte er sich nicht einfach Wissen anlesen. Er musste durch Beobachtung lernen, und durch das Mobbing hatte er nicht einmal die einfachsten sozialen Grundregeln erlernt. Immer noch musste er sich mehr anstrengen als alle anderen. Es fühlte sich nicht mehr wie die Erfüllung eines Traums an. Sein Traum hatte sich in einen Albtraum verwandelt.

Ein Mann, ein MonsterWhere stories live. Discover now