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Weihnachten: Das Fest der Liebe, der Besinnlichkeit und der Familie. Eigentlich. In unserer Familie allerdings war Weihnachten das Synonym für Stress. Da wir Heiligabend jedes Jahr bei uns zu Hause feierten, fing meine Mutter schon in aller herrgotts Frühe an, das gesamte Haus zu putzen. Nebenbei wurden noch die letzten Einkäufe erledigt, das Essen vorbereitet und alle weiteren Aufgaben an diejenigen delegiert, die gerade im Weg standen und nicht mindestens genauso im Stress waren wie meine Mum - also an alle Anderen.

Genauso war es natürlich auch dieses Jahr. Als ich im Laufe des Vormittags bei meinen Eltern ankam, wurde ich schon von einem Staubsaugergeräusch empfangen. „Weihnachten ohne Stress und ohne Tränen", murmelte ich mein neu gewonnenes Mantra vor mich hin. Dabei musste ich lächeln. Das Lächeln verging mir allerdings recht schnell, als ich schon beim Ersten Schritt ins Wanken kam. Die Tatsache, dass ich fast über den Putzeimer gestolpert wäre, ließ mich wissen, dass sich in all den Jahren nichts verändert hatte.
Bei der ganzen Arbeit und den vielen Aufgaben, die meine Mutter noch so zu verteilen hatte, war es nicht verwunderlich, dass ich von meiner Schwester Josy nichts hörte und nichts sah, als ich zu Hause ankam.
Dazu muss man wissen, dass es genau drei Möglichkeiten gab, die restlichen Stunden bis zum familiären Abendessen zu überleben. Die erste Möglichkeit war Flucht: Hierbei verließ man möglichst früh das Haus und kam möglichst spät wieder nach Hause. Angesichts der Tatsache, dass jeder nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, das ekelige nass-kalte Wetter bemerkte, schied diese Möglichkeit dieses Jahr aus. Bei Möglichkeit Nummer zwei handelte es sich um ‚ruhiges Verhalten'. Hierbei hieß die Devise ‚bloß nicht auffallen' und ‚weniger ist mehr'. Dabei suchte man sich einen ruhigen, unauffälligen Ort im Haus, welcher für die Putzwütigkeit meiner Mutter keine allzu hohe Priorität darstellte und blieb dort den ganzen Tag, bis man hörte, wie es im Haus ruhiger wurde. Wichtig dabei war allerdings, nicht in den Radar meiner Mutter zu kommen. Möglichkeit drei stellte genau das Gegenteil dar. Hier war das Thema ‚immer in Bewegung bleiben'. Ganz nach dem Motto ‚mehr ist mehr' sollte man sich so geschäftig im gesamten Haus hin- und herbewegen, dass man unmöglich so wirkt, als könne man noch weitere Aufgaben bewältigen.

Nach einem kurzen Überblick über die Situation wusste ich, dass Josy Möglichkeit Nummer zwei gewählt hatte. Da es allerdings ziemlich auffällig war, wenn mehrere Personen die gleiche Masche benutzten, würde mir nur Möglichkeit Nummer drei übrig bleiben. Dafür setzte ich schon einmal meinen gestressten Blick auf, nickte meinen Eltern zur Begrüßung zu und deutete mit wilden Gesten auf mein Gepäck an, dass ich mich erst mal darum kümmern musste. Als Antwort darauf bekam ich nur einen verständnisvollen Blick meiner Mutter, bevor sie meinem Dad weitere Aufgaben übertrug und dann den Staubsauger wieder anschmiss.

Instinktiv machte ich mich auf den Weg nach oben zu meinem alten Kinderzimmer. Jedes Mal vergaß ich beinahe, dass sich, noch bevor ich richtig ausgezogen war, meine kleine Schwester mein Zimmer unter den Nagel gerissen hatte. Ihr früheres Zimmer wurde sogleich von meiner Mutter als Bügelzimmer Schrägstrich Abstellkammer umfunktioniert. Ach ja, und es diente als provisorisches Gästezimmer für meine Besuche. Was also bedeutete, dass ich die nächsten Nächte zwischen dem Bügelbrett und anderem Krusch schlafen würde, den keiner mehr brauchte, der aber trotzdem zu schade zum Wegwerfen war. „Weihnachten ohne Stress und ohne Tränen", wiederholte ich mein Mantra, während ich meine Sachen auspackte.

Nachdem ich mein Gepäck abgeladen und das Bügelbrett so umgestellt hatte, dass ich halbwegs Platz in dem Zimmer fand, half ich meinen Eltern bei einigen Vorbereitungen, konzentrierte mich allerdings ansonsten auf Möglichkeit Nummer drei.

Auch der Weihnachtsabend an sich verlief ähnlich wie die letzten Jahre. Während ich mich maximal dazu aufraffen konnte eine Jeans statt eine Jogginghose anzuziehen, kam meine kleine Schwester elfengleich die Treppen hinuntergeschwebt, in einem Outfit, als würde sie das Cover von der Instyle abbilden. Aus stylingtechnischen Gründen hatte Josy dieses Jahr zudem darauf bestanden, nicht wie sonst üblich Raclette zu essen, da sonst sowohl ihre Haare, als auch ihre Klamotten nach Käse rochen. In solchen Momenten betete ich inständig im Nachhinein dafür, dass ich in der Pubertät ein völlig anderes Verhalten an den Tag gelegt hatte.

Das Essen mit der gesamten Familie verlief also im Großen und Ganzen unspektakulär ab, genauso wie die Geschenkeschlacht danach. Ich bekam eine Kamera, bei der meine Eltern wohl noch den letzten Funken Hoffnung sahen, dass ich vielleicht doch eine künstlerische Ader entwickelte. Josy verteilte ihre selbst gemalten Kunstwerke, welche von allen bewundert wurden, während sie leicht eingeschnappt war, da sie sich kein Tattoo stechen lassen durfte. Was für mich keine besonders große Überraschung darstellte, wenn man bedenkt, wie konservativ meine Eltern eingestellt waren. ‚Das bekommst du nie wieder weg! Damit verbaust du dir deine gesamte berufliche Zukunft!...' hörte ich schon die Argumente meiner Eltern während meine kleine Schwester nur da saß und etwas vor sich hin schmollte.

Ihre kurze Trotzphase wurde allerdings dadurch unterbrochen, dass meine Oma wie jedes Jahr mit der Diskussion anfing, warum wir Kinder nicht in der Kirche waren und warum wir ihr nicht einmal im Jahr einen Gefallen machen konnten. Da, wie bereits erwähnt, diese Diskussion in unserem Haus schon Tradition genoss, wussten wir alle wie es weitergehen würde. Mein Dad goss sich etwas von dem von mir geschenkten Whiskey ein, bevor er mir einen dankenden Blick zuwarf. Ich hielt mich aus der Diskussion weitestgehend heraus und startete schon mal meine neue Kamera. Vielleicht könnte ich ja schon hier anfangen, diese explosionsartige Diskussion künstlerisch darzustellen. Mein erstes Bild war von Josy, die sich gerade so richtig in Rage geredet hatte und endlich all die Argumente, die sie seit einem Jahr vorbereitet hatte, vortragen konnte. Klick. Das nächste Foto zeigte meine Oma, die sich gerade lauthals über die Jugend von heute beschwerte. Klick. Zwischendrin meine Mutter, welche einfach aus Prinzip darüber klagte, wie viel Arbeit sie sich immer mache und dass es keiner schätzen würde. Dass mein Vater ihr beschwichtigend über den Rücken streichelte, änderte leider rein gar nichts an der ausgearteten Situation, weshalb er sich lieber seinem alkoholischen Getränk widmete. Da Josy sich dieses Jahr auf die Diskussion besonders gut vorbereitet hatte und meiner Oma generell noch so einige Dinge einfielen, die sie störten und die sie loswerden wollte, artete es dieses Jahr so richtig aus.
„Was sollen nur die Nachbarn denken?", jammerte meine Mutter. Ich setzte schon zu dem nächsten Schnappschuss an, als meine Mutter mich mit den Worten „Muss das sein?" stoppte. Dann eben nicht. Die Luft war mir hier ohnehin viel zu dick und die Stimmung zu schlecht. Sobald eine Diskussion in einen Streit ausartete war ich raus. Ich konnte Streit einfach nicht abhaben.

„Ich muss mal an die frische Luft. Abendspaziergang", erklärte ich kurz mein Vorhaben, bevor ich die Streitenden hinter mir ließ, meine Vans anzog, die Josy anscheinend wieder rausgerückt hatte und aus der Haustür schlüpfte.

„Von wegen Weihnachten ohne Tränen und ohne Stress", murmelte ich beim Hinausgehen. Wir hatten zwar noch keine Tränen, aber dafür einen ordentlichen Streit.

moments (Louis Tomlinson ff) Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon